Julia Gerlach, "Wir wollen Freiheit" (Herder-Verlag, 16,80 Euro) wird am 28. 9. 2011 erscheinen.

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DER STANDARD-
Schwerpunktausgabe 9/11

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Es waren nicht die Anschläge von New York und Washington, die das Leben vieler junger Muslime umkrempelten. Es waren vielmehr die daraufhin ausbrechende Diskussion über den Zusammenhang von Islam und Gewalt, die misstrauischen Blicke und natürlich die berühmt-berüchtigte Rede von US-Präsident George Bush, der zu einem Kreuzzug gegen den Terror aufrief, die sie veränderten. "Ich stand mit meinen Kollegen zusammen, und gemeinsam sahen wir die Flugzeuge ins WTC einschlagen. Bis dahin habe ich mich als einer von ihnen gefühlt. Da drehte sich eine Kollegin um und sagte: Das war einer von euch! Ab dem Moment war ich anders!" , erzählt der Toningenieur Khaled S. aus Berlin. Er begann im Koran nachzulesen. Wie viele in diesen Tagen wollte er wissen: Was steht denn da zum Thema Gewalt? Er las sich fest.

In der Literatur spricht man von dem Phänomen der "new-born muslims" , der neugeborenen Muslime. Von einem kleinen Teil dieser neuen Frommen haben wir in den vergangenen zehn Jahren extrem viel gehört. Sie lasen im Koran eine Anleitung zu Hass, Gewalt und Terror und erklärten dem Westen den Krieg. Die überwältigende Mehrheit der neugeborenen Muslime, fanden im heiligen Buch jedoch die Beschreibung für ein besseres Leben und Engagement. Die Jugendlichen empören sich einerseits darüber, dass eine Minderheit ihrer Glaubensbrüder die Religion zur Rechtfertigung von Gewalt und Terror missbrauchen, zugleich ärgern sie sich andererseits über das Misstrauen des Westens. Es entstanden zahlreiche Jugendinitiativen: Ihr Ziel war es, das Bild des Islam zu verbessern und den radikalen Tendenzen etwas entgegenzusetzen. Schnell entstand die passende Mode: Die Jugendlichen übernahmen Elemente aus der globalen Jugendkultur, versahen diese mit islamischen Vorzeichen, und schon war etwas Neues entstanden. Aus Madonna wird Sami Yusuf und aus Eminem Ammar 114. Eine coole Kopftuchmode entsteht. Die Jugendlichen sind tiefreligiös und zugleich trendbewusst.

Entstanden ist die Idee des Pop-Islam bereits Mitte der 90er-Jahre in Ägypten, als Amr Khaled, ein charmanter Buchhalter mit seinen Predigten die Jugend der Mittelschicht in den Bann schlug. Er forderte sie auf, bessere Muslime und bessere Mitbürger zu werden. Statt zu warten, dass die Regierung die Straße vor ihrem Haus repariere oder ihnen einen Job beschaffe, sollten sie ihr Leben in die eigene Hand nehmen. Er forderte sie zudem auf, erfolgreich zu sein. Seine Botschaft wurde auch in Europa gehört. 2004 gründeten sich auch in Deutschland und Österreich Jugendgruppen.

Zunächst hört sich der Ansatz des Pop-Islam unpolitisch an, er zielt jedoch auf Gesellschaftveränderung: Wenn jeder Mensch ein erfolgreicherer Mensch und besserer Muslim ist, entsteht eine bessere, sprich islamischere Gesellschaft. Das erinnert an Ideen der Muslimbruderschaft, und tatsächlich werden Amr Khaled auch Verbindungen zur Bruderschaft nachgesagt. So ist der Produzent seiner ersten Videos, mit denen Amr Khaled schnell ein Star in der gesamten arabischen Welt wurde, ein bekennender Muslimbruder: Ahmed Abu Haiba gilt als Vater des sich schnell entwickelnden Islamotainment. Immer neue Stars mit islamisch korrekten Texten werden auf den Markt gebracht, TV-Formate boomen, und heute gibt es rund 40 islamische TV-Sender. Der Markt verlangt allerdings ständig nach mehr. Mit Al Risala baute er ab 2003 ein modernes islamisches Vollprogramm mit Ratgebersendungen, Kochstudio und Kinderspaß auf. "Es ging uns darum, die Jugend mit einem Islam der Mitte zu erreichen: Sie sollten weder verwestlicht leben noch radikal islamischen Ideen verfallen" , so Abu Haiba. 2009 geht er mit "4Shbab für Jugendliche" auf Sendung, einem MTV mit islamischem Vorzeichen.

Flach und religiös

Die Kommerzialisierung des Islam war erfolgreich und machte die arabische Welt religiöser. Zugleich brachte sie auch eine Verflachung der Inhalte: Es wurde chic, fromm zu sein und dies zu zeigen. Engagement für eine bessere Gesellschaft oder womöglich sogar die Reform des Islam von innen blieben hingegen auf der Strecke. In Ägypten vereinnahmte zudem die Regierungen den Islam. Amr Khaled verlor seine Glaubwürdigkeit, als er im November 2010 bei einer Wahlkampfveranstaltung eines Kandidaten der Regierungspartei auftrat.

Doch dann kam die Revolution, und Amr Khaled schlüpfte in eine neue Rolle: In seiner Show Das Morgen wird schöner sein fordert er seine Zuschauer auf, das Land mitzugestalten. Er predigt fast das Gleiche wie früher, allerdings ohne Bezug zum Islam. Ähnlich macht es Ahmed Abu Haiba. Er hat mit dem linken Journalisten Ibrahim Eissa zusammen Tahrir-TV gegründet: "Wir haben während der Revolution festgestellt, dass wir nur Erfolg haben können, wenn wir auch mit Liberalen und Linken zusammenarbeiten. Zudem sind wir eine sehr religiöse Gesellschaft, und haben es nicht nötig, dies ständig zur Schau zu stellen. Der Aufbau des Landes ist jetzt wichtiger!" , erklärt er. Modisch macht sich das neue Selbstbewusstsein des Pop-Islam natürlich auch bemerkbar: In diesem Sommer trägt "Frau" Bauernlook. Die knallbunten Tücher werden locker im Nacken geknotet. Ebenso wie die armen Frauen aus dem Niltal, welche sie schon immer getragen haben, zeigen auch die trendbewussten Städterinnen in diesem Sommer den Haaransatz. Der Pop-Islam erlebt ein Revival, und wieder versteht er sich als Gegengewicht zu radikaleren Gruppen. (Julia Gerlach, DER STANDARD - Printausgabe, 10./11. September 2011)