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Mit der Besessenheit der erblindeten Dorothea Neff: Andrea Eckert packt im Volkstheater die Deichsel der Courage.

Foto: APA/Neubauer

Wien - Felix Mitterers Huldigungsstück an die große Schauspielerin Dorothea Neff zehrt von einer stillen Heldentat: Neff versteckte ihre jüdische Freundin Lilli Wolff in den Jahren der Nazi-Diktatur bei sich in der Wiener Wohnung. Kaum jemals machte die Neff von ihrem Heldenmut ein Aufhebens. Erst als sie 1979 von Yad Vashem als "Gerechte unter den Völkern" geehrt wurde, lüftete sie zögerlich den Mantel des Schweigens. Es ist Mitterers Auftragswerk hoch anzurechnen, dass es bemerkenswert ungeschwätzig daherkommt.

Eher zögerlich entfalten sich die Szenen im Wiener Volkstheater: sparsam auf die Schreckensschnur der Chronologie gefädelt. Der moralische Zeigefinger bleibt eingekniffen in Michael Sturmingers Inszenierung. Saxofon- und Klarinettentöne (Gerald F. Preinfalk) ziehen wie Rauchschleier vor dem Guckkasten vorüber.

In diesen hat Bühnenbildner Ralph Zeger Neffs Altbauwohnung schräg hineingestellt. Lilli (Martina Stilp) flattert wie ein Modistinnenvogel in das gutbürgerliche Gefängnis herein. Die Neff? Kniet vor dem anbetungswürdigen Geschöpf nieder. Es bleibt dem jungen Nachbarn namens Erwin Ringel (Robert Prinzler) vorbehalten, den ausgestreuten gelben Stoffstern vor den Argusaugen der Hausbesorgerin Krottensteiner (Inge Maux) zu verbergen.

Neffs prächtiges Heim mit seinen Perserteppichen als Tagesdecken wird unversehens zum muffigen Verschlag: Der schöne Vogel Lilli darf nicht ausfliegen, denn draußen lauern Nazis, die eine Jüdin schon auf den bloßen Verdacht hin an die Gestapo verraten. Ist eine Szene verlöscht, dreht sich der Guckkasten im Kreis und gibt seine hölzerne Rückseite zu erkennen: Das letzte aller Refugien ist aus Sperrholz und Kleister gemacht. Auch Heldentaten sind Illusionskunstwerke.

Womit wir endlich zu Andrea Eckert kommen, der als Neff eine beglückende, auf diese Weise noch nicht gesehene Gratwanderung gelingt. Die Eckert, die in der Rolle ihrer Lehrermeisterin Neff gleich zu Anfang die Penthesilea zu geben hat, eine erhaben deklamierende Amazone, die mit Kleists Versen wie mit Brandsätzen um sich wirft, bewahrt sich bis zum Schluss die bewegten Umrisse einer Rätselfigur.

Entscheidender Satz

Hat sie Lilli bei sich aufgenommen, um für ihre Liebe eine Wohnstatt einzurichten? Mit karger Anmut lässt die Neff den unbedenklichen Frohsinn der Geliebten an sich abrinnen. Raucht Zigaretten. Stellt ein Kompottglas auf die Waage, packt Lillis Koffer, ehe sie der zur Deportation Bestimmten den lebensrettenden Satz zuwirft: "Lilli, du bleibst bei mir!" Ab nun sehen wir Neff beim Verwalten ihrer Lebenskräfte zu. Lillis Kölner Freundinnen schneien herein, umzingeln die Künstlerin, behindern sie in ihrem Dasein. Die Eckert trägt ihr Tragödinnenlos wie eine Tarnkappe. Nicht alle Genre-Szenen gelingen Sturminger gleich gut. Die Erpressungsversuche der Hausmeisterin wehrt die Eckert knöchern und insistent ab. Aber die Wechsel- fälle einer lesbischen "menage à cinque" inszeniert der Regisseur bestmöglich dezent, allein am Tatbestand seelischer Zerrüttung interessiert, weil die Zeit des Terrors eben auch die guten Menschen zu zerbrechen droht.

Lilli wandert nach Kriegsende in die USA aus. Die Neff, nunmehr mit der apart-praktischen Eva Zilcher (Annette Isabella Holzmann) liiert, verliert langsam das Augenlicht. Fast unmerklich verwischt die Grenze zwischen Sein und Schein. Vorsichtigen Schritts wechselt Neff in die Rolle der Mutter Courage hinüber: Die Anfechtungen und Suizidgedanken werden im Kunstwerk sublimiert. Vielleicht ist es das, was Eckert einer kreuzbraven Inszenierung geschenkt hat: den Mut zur Unmäßigkeit, der die Kunst vom gut Gemeinten unterscheidet. Insofern ist Eckerts Neff jedes Lob wert. (Ronald Pohl/DER STANDARD, Printausgabe, 12. 9. 2011)