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Der Guru, der nicht "Boss" sein wollte: Erek (Joachim Meyerhoff) schirmt Anna (Regina Fritsch) und Ole (Tilo Nest) ab.
Wien - Noch ist alles unschuldig im neuen Theaterjahr: Weiß dominiert die Bühne des Wiener Akademietheaters, die sich als Wohnzimmer einer großbürgerlichen Villa präsentiert. Im glückseligen Urzustand eines Gemeinschaftsgefühls wähnen sich offene Menschen, die Anfang der 1970er-Jahre in Ereks (Joachim Meyerhoff) elterliche Bude einziehen und "Die Kommune" gründen. Regisseur Thomas Vinterberg nimmt der erstklassigen und umjubelten Uraufführung erbarmungslos die Unschuld.
In diesem neuen Stück Vinterbergs geht es nicht um sexuellen Missbrauch an Kindern wie im Film Das Fest (1998) und in der Burgtheater-Fortsetzung Das Begräbnis, beide ebenso vom dänischen Dogma-Filmer inszeniert. In seinem zweiten Theaterprojekt in Wien ist die Gewalt unterschwellig und äußert sich in Demütigungen und Verrat. Er verfasst die Texte mit Mogens Rukov, seinem ehemaligen Lehrer an der Filmakademie.
Mit der Verlegung der Tragikomödie in eine Kommune - in einer solchen hat Vinterberg selbst als Kind zwölf Jahre lang gelebt - und in die Blütezeit der Neuen Linken schärft er den Blick auf die Probleme und Konflikte, die durch die grenzenlose Liebe und die Grenzen der individuellen Freiheit innerhalb menschlicher Verhaltensmuster auftreten. Scheinbar intakten familiären Strukturen wird die Maske entrissen, auch wenn Schminke in Kommunen keinen Wert besitzt.
Zweierlei Beziehungsmaß
Der Theaterplot ist im Grunde einfach und auch nicht neu. Ein Mann, besagter Erek, steht zwischen zwei Frauen. Er verlässt die ältere, seine Ehefrau Anna (Regina Fritsch als Tieftraurige mimt intensiv), mit der er die Kommune gründete, und macht die um Jahre jüngere Emma (Adina Vetter) zu seiner Geliebten. Es hat eine einnehmende Wirkung, wie Meyerhoff den cholerischen Bärtigen einfühlsam, gleichzeitig jähzornig und innerlich kalt darstellt. Er hasst es, als "Boss" bezeichnet zu werden, aber das Alphatier in ihm entwindet sich alsbald den selbst auferlegten Fesseln. "Lasst uns mal darüber reden", lautet ein häufig von ihm geäußerter Satz.
Die Visualisierung des stilvollen Bühnenbilds (Stefan Mayer) gelingt schön, wenn Erek "seine" Familie vorstellt. Da ist seine Tochter Freja aus der Ehe mit Anna, die sich vom lieblich-süßen Mädchen zur vielleicht "Erwachsensten" entwickelt; ein großes Lob an das Junge-Burg-Talent Elisa Plüss zum eindringlichen Spiel.
Auch sonst dominieren schrullige und liebevoll weltfremde Menschen: Ditte (Alexandra Henkel) und Steffen (Dietmar König), denen die Behörden eine Adoption verwehren; Mona (Dorothee Hartinger), die mit perlendem Lachen und bayerischem Dialekt überzeugt. An ihrer Person zeigt sich, wie wenig politisch Kommunardinnen sind, etwa wenn sie nicht zu wissen vorgibt, dass sich die Amerikaner aus Vietnam zurückgezogen haben. Schließlich darf auch der musische Tagelöhner Virgil (Fabian Krüger) bleiben und macht sich in der Küche nützlich. Ole (Tilo Nest) ist irgendwie immer schon da und frönt als Hippie-Opa gar sonderbaren Gewohnheiten.
The Who und Join together begleiten den Einzug. Fort sind die weißen Unschuldstücher. Das Haus ist voll, das Karma stimmt. Im tiefen Glauben an die Kraft der Gespräche pflegt der bunt zusammengewürfelte Haufen Basisdemokratie. Kommune bedeutet Auflösung der Kernfamilie.
Wie lange jedoch funktioniert der Friede in Schlaghosen und John-Lennon-Look? Die ideologischen Ideale des solidarischen Gemeinschaftsleben stehen der splitternackten Emma hilflos gegenüber, deren Verbleib in der Kommune Erek als Hausherr schließlich durchgesetzt hat. Vetter stellt sie unnahbar dar, voller Machtbegier. Sie führt Make-up und Seidenstrümpfe in die Hausgemeinschaft ein - symbolische Details für den Generationenwechsel, für die allmähliche Auflösung der Utopie einer harmonisch funktionierenden, kollektiven Lebensform. Als dämonische "Seidenstrumpfpuppe" ist sie es, die den Wendepunkt bringt. (Sebastian Gilli/DER STANDARD, Printausgabe, 12. 9. 2011)