"Wolokolamsker Chaussee XI" wird in Form einer multimedialen Performance in den Artilleriehallen des HGM Wien aufgeführt.

Foto: Mascha Dabic

Mal verkörpert der Hor 29. Novembar Partisanen, mal ein Häufchen von Deserteuren, an einer anderen Stelle symbolisiert er die Arbeiterklasse und dann wieder den Kampf der Frauen für Gleichberechtigung.

Foto: Mascha Dabic

Im Objekt 2 auf dem ehemaligen militärischen Gebäudekomplex Arsenal im dritten Wiener Gemeindebezirk fühlt man sich schlagartig in eine andere Zeit hineinkatapultiert. Große gusseiserne Kanonen sind in der Kanonenhalle verteilt, an den schmalen Seitenwänden der langgezogenen Halle sind in bräunlichen Tönen gehaltene Fresken angebracht, Darstellungen von "Krieg" auf der einen Seite, von "Frieden" auf der anderen.

"Wo kommt ihr her, Genossen?", hallt es von der "Krieg"-Seite des Objekts. "Aus dem Kessel", folgt prompt die Antwort von der anderen Seite. "Der Deutsche, habt ihr ihn gesehen? Wie kämpft er, der Deutsche?", ertönt es wieder abgehackt. "Ein Horizont aus Panzern ist der Deutsche, der auf dich zufährt. Sooo ein Himmel aus Flugzeugen ist der Deutsche", rezitieren die schwarz gekleideten Mitglieder des Chors und recken bei "sooo" geschlossen die linke Faust in die Höhe. "Und ein Teppich aus Bomben, der sich über Russland legt", heißt es weiter im Sprechgesang.

Die Wolokolamsker Chaussee

Der Chor, der hier eine Gruppe von Deserteuren mimt und Unkenrufe von der Front übermittelt, ist der Hor 29. Novembar und probt mit dem Wiener Künstlerkollektiv KJDT (Konfiguration Jenseits Des Todes). Man bereitet sich auf die Aufführung des Stücks "Wolokolamsker Chaussee XI" von Heiner Müller vor. Die Landstraße mit dem etwas sperrigen Namen bezeichnet den Ort, an dem der Vormarsch der deutsch-faschistischen Armee auf die Sowjetunion 1941 gestoppt wurde. Von Wolokolamsk aus, rund 120 Kilometer von Moskau, begann die sowjetische Gegenoffensive nach Prag, Budapest, Berlin und Wien.

Profis und Amateure

Der Konzeptkünstler und Schauspieler Andreas Pronegg erzählt von der Zusammenarbeit seiner professionellen Theatergruppe KJDT mit dem Hor 29. November, der sich weitgehend aus Amateuren zusammensetzt und dessen Repertoire aus jugoslawischen und internationalen Arbeiter- und Partisanenliedern besteht: "Hier prallen verschiedene Energien und Ästhetiken aufeinander, sodass eine Reibung entstehen kann. Für das Publikum sind unterschiedliche Wahrnehmungen möglich, unterschiedliche Aggregatszustände." Gefunden hat man den Chor ganz zufällig, über Bekannte. Das Repertoire und das Selbstverständnis des Chors habe eine "total organische" Zusammenarbeit im Projekt ermöglicht. "Ein echter Glücksfall", resümiert Pronegg.

Ost-West-Bewegung im 20. Jahrhundert

Bereichernd und befruchtend sei es außerdem, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die nicht aus dem deutschsprachigen Raum kommen: "Das Stück handelt von der Ost-West-Bewegung im 20. Jahrhundert. Diesen Austausch können wir mit Hilfe des Chors gewissermaßen physisch zeigen, denn die Menschen aus Südosteuropa bringen eine andere Sinnlichkeit mit, das Slawische, das dem Kopfsystem des Deutschtums, wie es im Text beschrieben wird, etwas entgegensetzt."

Neuauflage des antiken griechischen Chors

Dem Chor kommt bei der Inszenierung keine bestimmte Rolle zu, sondern eine ganze Reihe von Funktionen: Mal verkörpert der Chor Partisanen, mal ein Häufchen von Deserteuren, an einer anderen Stelle symbolisiert er die Arbeiterklasse und dann wieder den Kampf der Frauen für Gleichberechtigung. Zwischendurch löst sich der Chor in Einzelprotagonisten auf, die sich mit dem Publikum vermischen. Pronegg erklärt das Konzept so: "Das, was wir an Disziplin, Härte und Stärke etablieren, soll der Chor unterlaufen, brechen und konterkarieren." Pronegg zieht eine Parallele zum antiken griechischen Chor: „Im antiken Drama war der Chor das Bindeglied zwischen dem Publikum und den Protagonisten. Er hatte eine Mittlerfunktion, wie ein Scharnier an einer Tür."

Die Theatralisierung der Revolution

Saša Miletić vom "Hor 29. Novembar" empfindet die Zusammenarbeit mit den Schauspielern ebenfalls als eine Bereicherung: "Der Chor kann in diesem Projekt seine Möglichkeiten ausloten und in der Theatralisierung der Revolution Erfahrungen machen." Man habe Lieder ausgesucht, die mit Russland oder dem antifaschistischen Kampf zu tun haben. Miletić findet die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Krieg aufschlussreich: "Russland, Deutschland, die Kriegslieder, all das hat auch mit der Geschichte Jugoslawiens unmittelbar zu tun."

Angst und Revolte - diese Elemente im Stück erwecken sein besonderes Interesse. "Im Krieg muss man den Feind hassen, um gegen ihn kämpfen zu können. Zuerst muss man aber die eigene Angst vor dem Feind besiegen. Im Zweiten Weltkrieg mussten die Deutschen ihre Feinde nicht unbedingt hassen, weil sie ihren rationalen Plan hatten. In Jugoslawien oder in der Sowjetunion musste aber erst ein Hass gegen die Deutschen entfacht werden, um die Menschen gegen den Feind einzuschwören. Da kommen dann Manipulation und Propaganda ins Spiel. Manche von den russischen Liedern, die wir im Stück singen, sind eindeutig Propaganda-Lieder", erzählt Miletic. Wie zum Beispiel das melancholische Partisanenlied "Oj tumany moi, rastumany", das die Chormitglieder gemeinsam mit den Schauspielern in einer Reihe stehend mit dem Gesicht zur Wand singen.

Aktuelle Thematik

Die Arbeit an einem Stück, das den Schrecken des Krieges thematisiert, zwingt alle Beteiligten zu einer Auseinandersetzung mit der Thematik. Uroš Miloradović, Redakteur bei der Ethnozeitschrift "Kosmo" und Chor-Mitglied der ersten Stunde, kann sich mit der Rolle als Deserteur gut identifizieren: "Der Krieg weckt in mir Assoziationen mit Flucht. Meine Einstellung zu Krieg war und ist die eines Deserteurs". Er betont, dass der Zweite Weltkrieg gar nicht so lange her ist und gibt zu bedenken: "Manche Ideen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die als überholt betrachtet wurden, sind jetzt leider wieder im Umlauf." (Mascha Dabić, daStandard.at, 12.9.2011)