Ich erinnere mich an den ersten April 2001, als der berüchtigte Verbrecher Slobodan Milosevic festgenommen und an den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ausgeliefert wurde. Da es der erste April war, glaubte man an einen Aprilscherz. Manche meinten, die Tatsache, dass Milosevic für die von ihm zu verantwortenden Verbrechen während des Krieges in Kroatien, Bosnien und Kosovo in den 90er Jahren bestraft werden sollte, wäre zu schön um wahr zu sein.
In den Gesichtern der Menschen konnte ich die Freude darüber erkennen, dass „die Gerechtigkeit endlich gesiegt hatte". Aber ich erinnere mich auch an den 11. März 2006, als der ICTY den Tod Milosevics bekannt gab.

In Gracanica, eine von der Hauptstadt Pristina 15 Kilometer entfernt liegende Stadt, wo der Großteil der Bevölkerung serbischer Volkszugehörigkeit ist, erwiesen ihm einige ihre Ehrerbietung und taten ihren Schmerz über den Verlust ihres Führers kund. Die Stimmung in der Hauptstadt des Kosovo war jedoch eine völlig andere: Dort waren die Menschen einerseits froh über den Tod des Verbrechers, der ihnen jahrzehntelang Schmerz und Verlust zugefügt hatte, andrerseits zeigten sich die meisten von ihnen aber viel mehr enttäuscht darüber, dass er vor dem endgültigen Urteilsspruch gestorben war. Sie warfen dem ICTY vor, den Prozess hinausgezögert zu haben.

Im Hinblick auf das internationale Strafrecht liegt das größte Problem mit Milosevics Tod während des Prozesses darin, dass so viele Fragen unbeantwortet blieben. Das sei in zweierlei Hinsicht problematisch: im Sinne des Bedürfnisses der Opfer, mit der Situation abschließen zu können, und im Sinne des historischen Vermächtnisses eines gegebenen Konflikts, meint Ingrid Burke, Juristin an der Colorado State University, die den ICTY-Prozess sehr genau verfolgt hat. Erstens, so führt sie aus, wollen Menschen, die Opfer der mutmaßlichen Taten eines bestimmten Angeklagten sind, damit abschließen können. Und das gelingt in erster Linie durch das Fällen eines gültigen Urteils durch ein internationales Gericht, das über die Schuld des Angeklagten entscheidet. Zweitens ist es wahrscheinlich, dass wenn eine furchtbare Tat von einem internationalen Gericht als eines der schlimmsten Verbrechen, das von einem Menschen begangen werden kann, verurteilt wurde, und wenn diese Tat zu einem Schuldspruch und einer harten Bestrafung des Angeklagten führt, diese bestimmte Tat in der Zukunft nicht mehr begangen wird. Internationale Rechtsprechung kann eine starke abschreckende Wirkung haben, aber nur, wenn Verfahren abgeschlossen und Urteile gesprochen werden, fügt Burke hinzu.

Die Angst hört nicht auf

Heute erkennt man die gleiche Angst in den Gesichtern der Menschen. Nach 15 Jahren der Verfolgung hat die Verhaftung des meist gesuchten Kriegsverbrechers Ratko Mladic, der für die Massaker in Srebrenica und Sarajevo während des Bosnienkriegs in den 90er Jahren verantwortlich gemacht wird, den Opfern tatsächlich etwas Frieden gebracht. Aber nun fürchten sie, dass Ratko Mladic das gleiche Schicksal erleiden könnte wie der andere „Balkan-Schlächter", Slobodan Milosevic. Aufgrund des labilen Gesundheitszustandes von Mladic ist die Sorge groß, dass er die Dauer eines üblichen Völkermord-Prozesses nicht überlebt.
Albin Eser, ein ehemaliger Richter am ICTY, erklärt, dass das Verfahren gegen Radko Mladic in zwei kürzere Prozesse aufgespaltet werde; der erste behandle die ihm zur Last gelegten Verbrechen in Srebrenica, der zweite die Ereignisse in Sarajevo 1995. Die Ärzte hätten Mladic für haftfähig erklärt, so Eser. Dann fügt er hinzu: „Kein Gericht würde es begrüßen, wenn der Angeklagte vor Beendigung des Verfahrens stirbt, weil immer die Gefahr von Spekulationen besteht, dass das Verfahren ihn in den Tod getrieben haben könnte."
Elsana Nurkovic von der Belgrader Menschenrechtsorganisation Humanitarian Law Centre, die die Verfahren am ICTY verfolgt, ist der Ansicht, dass die Aufspaltung von Mladics Fall in zwei Prozesse die Effizienz erhöhen werde. Dem niederländischen Radio gegenüber meinte sie: „Ich glaube, dass es durch zwei kürzere Verfahren schneller und effizienter gehen wird. Nicht nur was die Rechte des Angeklagten betrifft, der ein Recht auf ein effizientes Verfahren hat, sondern auch für all die Opfer, die 16 Jahre auf dieses Verfahren am ICTY gewartet haben - einige von ihnen werden das endgültige Urteil in diesem Fall noch erleben." http://www.rnw.nl/international-justice/article/icty-fear-success
Während ihres Vortrags bei den Politischen Gesprächen in Alpbach meinte Renate Winter, Richterin der Berufungskammer des Sondergerichtshofs für Sierra Leone: „Man wirft den Richtern immer vor, nicht kompetent genug zu sein, aber der Fehler liegt nicht immer bei den Richtern." Um zu einem endgültigen Urteil zu kommen, bedürfe es langer Verfahrensabläufe. „Deshalb hat der ICTY in vielen Fällen auch so lange gebraucht", meint sie.

Wiederaufnahme des Prozesses gegen Haradinaj - Gerechtigkeit oder Balanceakt?

„Die Serben warfen dem ICTY anfangs vor, nur serbische Verbrecher zu verhaften; ich nahm aber an drei Verfahren teil, bei denen keine Serben angeklagt waren. Eine Person stammte aus dem Kosovo, eine aus Mazedonien und eine aus Bosnien; es wurden also nicht nur Serben angeklagt", meint der Ex-ICTY-Richter Albin Eser. Dann fügt er hinzu: „Das war wichtig, um dem ICTY mehr Respekt und Akzeptanz zu verschaffen, und ich glaube, Carla Del Ponte hat einiges dazu beigetragen."

Dreiundachtzig Zeugen wurden im ersten Verfahren gegen den ehemaligen Premierminister des Kosovo, Ramush Haradinaj, vorgeladen; bis auf zwei erschienen alle vor Gericht. Die Berufungskammer ordnete ein Wiederaufnahmeverfahren an, da, wie die Berufungsrichter sagten, die ursprüngliche Verfahrenskammer einen groben Fehler beging, indem sie der Anklagevertretung nicht „mehr Zeit" gab, diese zwei Zeugen aufzurufen. Doch Shefqet Kabashi - dessen Zeugenaussage von zentraler Bedeutung für das Wiederaufnahmeverfahren war - weigerte sich nicht nur wiederholt, die Fragen des Staatsanwaltes zu beantworten, sondern ließ den Wahrheitsgehalt seiner früheren Aussagen gegenüber den Ermittlungsbehörden fraglich erscheinen.

„Wenn das zweite Verfahren gegen Ramush Haradinaj ohne Urteil endet, könnte das Vertrauen der Menschen in die Justiz weiter schwinden", meint Albin Eser. Doch dann fügt er hinzu: „Wenn der Grund dafür darin liegt, dass es nicht genügend Beweise gab, weil in der Zwischenzeit mehr Zeugen gestorben sind oder sich weigerten auszusagen, dann kann man nicht das Gericht dafür verantwortlich machen, sondern die Menschen, die nicht bereit sind auszusagen." In Haradinajs Fall verweigern viele Zeugen die Aussage. Dass die Zeugen eingeschüchtert worden sein könnten, hält er für Spekulationen.

Das Kabinett der Allianz für die Zukunft des Kosovo, dessen Vorsitzender Ramush Haradinaj ist, hat als Reaktion auf die Medienkampagne in Belgrad ein Informationsdokument an internationale Institutionen versandt. In dem uns zur Verfügung gestellten Dokument heißt es: „Das Verfahren gegen Ramush Haradinaj wird offiziell vom ICTY allein angestrengt. In Wahrheit ist es eine gemeinsame Anklage mit Belgrad. Und, anstatt echte Beweise vorzulegen, haben die Ankläger sowohl auf Seiten Belgrads als auch des ICTY beharrlich von Zeugeneinschüchterung gesprochen." Man beachte hierzu die offizielle ICTY-Position, die im Gegensatz steht zur Position der Anklage/ Belgrads.

Das Dokument beinhaltet die Aussage der ICTY-Sprecherin Nerma Jelacic am Ende des Haradinaj-Prozesses 2007. Jelacic erklärte, dass Behauptungen (von der Ermordung von Zeugen) „einfach nicht wahr" wären und beschrieb sie weiter als „erfunden und unrichtig". http://www.icty.org/sid/9858
Im Dokument wird außerdem auf Del Pontes Beschwerden über Zeugeneinschüchterung von Anbeginn des Verfahrens 2005 reagiert. Über fünfzig Mal berichtete sie der UN-Mission im Kosovo (UNMIK) persönlich über die „abschreckende" und „einschüchternde" Einwirkung auf Zeugen bei öffentlichen politischen Auftritten von Ramush Haradinaj, so das Dokument, aber laut demselben Dokument antwortete die UNMIK in jedem dieser Fälle, dass es keine Beweise für Zeugeneinschüchterung gäbe, weder von Ramush Haradinaj selbst noch in seinem Namen.

„Insgesamt hängt das Vertrauen der Öffentlichkeit in diesem Fall von der Transparenz im Hinblick auf die Behandlung der Zeugen und die Einhaltung der normalen Verfahrensabläufe des ICTY im Allgemeinen ab", erklärt Ingrid Burke von der Colorado State University. Ihrer Meinung nach haben haltlose Anschuldigungen von Parteien, die einen Grund haben befangen zu sein, wie etwa Vukcevic, wahrscheinlich wenig Einfluss auf das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Legitimität dieses Prozesses. Solange berufene Quellen wie die ICTY-Sprecherin weiterhin bestätigen, dass Belastungszeugen bestens geschützt werden und ungehindert vor Gericht aussagen können, wird die Öffentlichkeit der Legitimität des Ausgangs von Haradinajs zweitem Prozess voraussichtlich trauen, meint Burke.

Haradinaj war Kommandeur der albanischen Befreiungsarmee des Kosovo (UCK), die 1998 gegen serbische Streitkräfte für Kosovos Unabhängigkeit kämpfte. Er und seine Befehlsempfänger Idriz Balaj und Lahi Brahimaj sind angeklagt wegen Verbrechen gegen Roma, albanische und serbische Zivilisten in der UCK-Haftanstalt in Jablanica im westlichen Bezirk des Kosovo.

Der slowenische Staatspräsident Danilo Türk, dessen Land in geringerem Ausmaß von den Kriegsverbrechen betroffen war, ist der Meinung, dass internationales Recht eine sehr starke Quelle und Anregung dafür sei, dass Fairness und Gerechtigkeit möglich und die Zukunft sind.
„Als die Idee aufkam, 1993 ein Tribunal für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien zu errichten, gab es Zweifel, dass dieses Vorhaben gelingen würde. Aber jetzt, 20 Jahre später, sehen wir, dass es diesem Tribunal gelungen ist, alle verdächtigten Kriegsverbrecher festzunehmen; den meisten von ihnen wurde der Prozess gemacht, einige werden noch vor Gericht stehen, und das hat einen großen Unterschied gemacht."
Im Rahmen der Politischen Gespräche in Alpbach wurden auch die aktuellen Probleme der internationalen Rechtsprechung diskutiert. Internationale Gerechtigkeit war das Thema der diesjährigen Veranstaltung, und nach Meinung des Organisators dieses großen Events, Erhard Busek, bestand das Ziel der Gespräche darin herauszufinden, wie die Politik mit Gerechtigkeit umgeht. (Majlinda Aliu, derStandard.at, 12.9.2011, - Balkan Fellow der Erste Stiftung am Forum Alpbach)

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