Die Ungerechtigkeit ist klar, die Gerechtigkeit ist unklar." Immer wieder muss ich an das Zitat des französischen Philosophen Alain Badiou denken, während ich im Zuge der Politischen Gespräche im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach 2011 verschiedenen Versuchen lausche, den Begriff Gerechtigkeit zu definieren. "Gerechtigkeit – Verantwortung für die Zukunft" war das Thema der diesjährigen Veranstaltung im tirolerischen Alpbach, die vom 28. bis 30. August stattfand.

Die prominenten Sprecher nahmen eindrucksvolle und große Worte in den Mund – Verantwortung, Fairness, Wahrheit, Friedenskonsolidierung, Versöhnung, Vergebung -, während die jungen Menschen im Publikum mit ihren Smartphones surften. Ich setzte diese Worte und Bilder in meinem Kopf mit jenen zusammen, die ich als Journalistin nur wenige Wochen zuvor in einem komplett anderen Umfeld erlebt hatte, in Dörfern, die etwa 800 Kilometer von Alpbach entfernt liegen. Auch dort wird über Gerechtigkeit gesprochen. Wenn auch mit leiser Stimme und ohne Publikum, so wie jemand spricht, dem großes Unrecht widerfahren ist.

Im Unterschied zur öden Perfektion von Alpbach, der idealen Haneke-Filmkulisse, sind diese Dörfer nahe der kroatischen Stadt Knin keine Touristendestination. Das fruchtbare Tiefland liegt brach, die Häuser sind verfallen. Zwischen 1991 und 1995 herrschte hier Krieg. Zuerst vertrieben die serbischen Rebellen 1991 fast alle Kroaten aus dem Land und errichteten einen Parastaat, die so genannte Krajina. 1995 befreite dann die kroatische Armee dieses Gebiet im Zuge einer Militäroperation namens „Oluja" (Der Sturm). Die Serben flüchteten massenweise nach Serbien. Im Laufe der „Operation Sturm" und seiner Folgen wurden ungefähr 400 serbische Zivilisten getötet, fast alles ältere Menschen, die sich entschlossen hatten zu bleiben. Damals verstand man unter dem Begriff Gerechtigkeit offensichtlich Rache. Jedes Jahr am 5. August begeht man feierlich den Tag des Sieges in Gedenken an die Operation Sturm, der wichtigsten Militäroperation in der jüngeren kroatischen Geschichte, die Kroatien zu einem territorial und politisch vollständigen Land gemacht hat. „Der Sturm war eine gerechte Operation", erklärte Premierminister Jadranka Kosor während der diesjährigen Feierlichkeiten am 5. August in Knin.

Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag brachte ebenfalls seine Meinung über die Gerechtigkeit von Der Sturm zum Ausdruck, als er die kroatischen Generäle Ante Gotovina und Mladen Markač für die im Zuge dieser Operation verübten Verbrechen verurteilte. Das ist internationale, richterliche Rechtsprechung, das ist der Versuch der internationalen Gemeinschaft, die Folgen dessen aufzuarbeiten, was sie durch ihre Nichteinmischung während des Krieges in Kroatien und Bosnien und Herzegowina geschehen hat lassen. Für Kroatien war die Zusammenarbeit mit Den Haag nie eine Frage des Rechts, sondern ein notwendiges Geschäft – die Festnahme mutmaßlicher Kriegsverbrecher im Austausch für kleine Schritte in Richtung Europäischer Union.

Was würden die Opfer zum Thema Gerechtigkeit sagen, jene, die still um ihre Freunde und Familien trauern, während der Rest Kroatiens unbekümmert den Tag des Sieges feiert? „Ich glaube an die Gerechtigkeit; wenn ich das nicht täte, könnte ich nicht leben", sagte ein Mann, dessen Eltern unter jenen neun Zivilisten waren, die in den Nachwehen der Operation Sturm in einem kleinen Dorf namens Varivoda nahe Knin getötet worden waren. Bisher wurde in Kroatien noch niemand für dieses oder irgendein anderes während der Operation Sturm begangenes Verbrechen verurteilt. „Aber was ist Gerechtigkeit für dich?", fragte ich ihn. „Gerechtigkeit ist, wenn die Lebenden die Toten treffen, wenn die Wahrheit ans Licht kommt", antwortete er. Die Geschichte lehrt uns, dass im kollektiven Gedächtnis und der historischen Wahrnehmung des Siegers die Opfer der „anderen Seite" selten eine eigene Stimme bekommen. In Kroatien beginnen graue Nuancen langsam aber sicher Schatten auf die einst ausschließlich schwarz-weißen Erinnerungen an den Krieg zu werfen.

Die Verurteilungen in Den Haag und die Entschuldigung von Präsident Josipović für die während der Operation Sturm begangenen Verbrechen haben wesentlich dazu beigetragen, diese Opfer ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, wenngleich sie noch immer weitgehend ignoriert oder schöngeredet werden. Die Auseinandersetzung mit den Verbrechen ist ein wesentlicher Bestandteil der Gerechtigkeit. Und genau da sei der politische Wille der Schlüssel dazu, befanden sowohl die Familien der Opfer in Kroatien als auch die Diskussionsteilnehmer in Alpbach. Gerechtigkeit, gefolgt von Versöhnung, geschieht nicht spontan, sondern systematisch. So wie im Grunde auch der Krieg.

"Versöhnung ist nicht etwas, das wir erreichen, sondern ein Prozess, der nie aufhört", meinte Elazar Barkan, Gründungsdirektor des Instituts für historische Gerechtigkeit und Versöhnung (IHJR) während der Diskussionsrunde über Historische Erinnerung und Transnationale Gerechtigkeit in Alpbach. Das Gleiche gilt auch für Gerechtigkeit. (Barbara Matejcic, derStandard.at, 12.9.2011, Balkan Fellow der Erste Stiftung, Kurzfassung in DER STANDARD, Printausgabe, 13.9.2011)

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