Noch vor einigen Jahren galt die Türkei unter dem islamistischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan für viele Beobachter als ein demokratisches Vorbild für die arabische Welt. Auch ich gehörte zu jenen, die von der Annäherung zwischen der Türkei und Europa nach mehreren Besuchen in Istanbul und Ankara beeindruckt waren und die offene Tür zu Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union begrüßt haben.

Ein persönliches Erlebnis bei einer internationalen Konferenz 2003 trug zweifellos zu der positiven Einschätzung bei. Erdogan hat nicht nur mich durch ein geradezu flammendes Bekenntnis zur europäischen Mission der Türkei beeindruckt: Die Türkei sei ein Modell dafür, dass der Islam und Modernität zusammenleben können. Ranghohe Vertreter Israels waren dort auch hoffnungsvoll über die Zukunftsaussichten.

Am Vorabend der UN-Abstimmung zur Anerkennung eines Palästinenserstaates gilt aber Erdogan nicht mehr als ein möglicher Vermittler, sondern als ein von den arabischen Massen bewunderter Heißsporn, der es wagte, den israelischen Botschafter aus seinem Land auszuweisen. Nur vordergründig geht es um die ausgebliebene israelische Entschuldigung für den Tod von neun Türken, die im Mai 2010 bei dem israelischen Aufbringen einer Hilfsflotte zur Brechung der Seeblockade von Gaza getötet wurden. Auch ein UN-Bericht, der den Zugriff der israelischen Marine als legal bezeichnet hatte, forderte eine "angemessene Erklärung des Bedauerns" und eine Entschädigung der Opfer der "exzessiven Gewaltanwendung" .

Abgesehen von den vielen Fehlern, die Israel auch gegenüber der Türkei gemacht hat, handelt es sich bei dem von der westlichen Presse fast einmütig verurteilten Säbelrasseln Erdogans und seines Außenministers Davutoglu gegen Israel (unter anderen Drohungen mit Kriegsschiffen im östlichen Mittelmeer), aber auch gegen Zypern und Griechenland wegen geplanter Probebohrungen im Mittelmeer nach vermuteten Erdgasvorkommen um eine strategische Neuorientierung der Türkei. Seit 2009 verfolgt die Türkei als islamische Regionalmacht die vom neuen Außenminister Davutoglu proklamierte Politik der "strategischen Tiefe" um den "globalen Einfluss" der Türkei, vor allem mit Blick auf die muslimischen Nachbarn zu stärken.

Indessen hat Erdogan sehr enge persönliche Verbindungen zu den Diktatoren in Syrien, Libyen und Jemen angeknüpft. Ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen Folgen, auch im Fremdenverkehr (die Zahl der israelischen Urlauber fiel von einer halben Million auf 150.000) und die für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit der Rüstungsindustrie sind aber die Beziehungen zwischen Ankara und Jerusalem auf einem Tiefpunkt.

Der "Arabische Frühling" entpuppt sich (Anschlag von Eilat, Angriff des Mobs auf die israelische Botschaft in Kairo und die von Ankara zielbewusst betriebene Eskalation) früher als erwartet als ein Desaster für die von einem opportunistischen Dilettanten gelenkte Diplomatie des zunehmend isolierten Staates Israel. Erdogans Poker könnte sich aber angesichts der tickenden Zeitbomben in Syrien und Iran als eine folgenschwere Fehlkalkulation auch für die Türkei erweisen. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.9.2011)