In der internationalen Presse gibt es Meldungen, die genauso regelmäßig auftauchen wie das Amen in der Kirche. Gestern war das zum Beispiel auf Spiegel Online die Nachricht, dass sich wieder einmal jemand beim Vorträllern der US-Nationalhymne ordentlich versungen hat. Genauso wie vorher Christina Aguilera, Sarah Connor oder - in einem doch etwas anderen Kontext und mit etwas weniger Beinfreiheit - Sebastián Piñera gepatzt haben. Und aus irgendwelchen Gründen bekommen solche Meldungen im Kuriositätenkabinett des SPON Panorama-Ressorts immer direkt einen fetten roten Passierstempel. Denn an der Relevanz allein kann es nicht liegen, dass solche Meldungen es immer gleich mit Bild auf die Titelseite schaffen. Als Kuriosität kann der Hymnen-Fauxpas beim x-ten Mal nicht mehr durchgehen und als Lacher dient er auch nur bedingt - vor allem wenn es statt Links auf irgendein wackeliges Video nur den trockenen Einheitsbrei aus Agenturmeldungen zu lesen gibt.
"Nichts ist komischer als das Unglück anderer"
"Nicht ist komischer als das Unglück anderer", schrieb Samuel Beckett, und meinte dabei doch gar nicht die Komik, sondern die Tragik des Ergötzens an der Unvollkommenheit unserer Mitmenschen. Wir lieben die Schadenfreude, die uns so herrlich vor Augen führt, dass alle unsere bekannten und weniger bekannten Schwächen und Patzer als grundnormal gelten dürfen. Wir zelebrieren das Fehlerhafte, weil dadurch das eigene Verhalten leichter verdaubar wird.
So weit, so harmlos. Perfider wird es dann schon, wenn es sich dabei ausgerechnet um die Fehler der Schönen, Reichen und Berühmten handelt. Genauso wie die falsche Aufregung um den Schweißfleck von Angela Merkel ist auch das ewige Ergötzen an verpatzten Hymnen Ausdruck des Verlangens, endlich einmal die Positionen in der gesellschaftlichen Nahrungskette tauschen zu können. Im Gefühl der Schadenfreude sind Normen und Hierarchien vergessen, wenn sich der Leser mit dem Promi scheinbar auf Augenhöhe wähnt. Auf einmal erscheint der Gegenüber genauso herrlich menschlich wie man selbst. Ein bisschen gefühlte Emanzipation, ein bisschen Voyeurismus - mehr braucht es nicht zum Glücklichsein.
Die Betonung hierbei liegt auf dem Wort "scheinbar". Denn es geht natürlich nicht darum, "InTouch" mit der Glitzerwelt der Prominenz zu sein. Der Titel der gleichnamigen US-Postille ist ein dreister Beschiss am Volk, der Gleichheit vorgaukelt, wo es doch letztendlich nur um schöngeredetes Gaffertum geht. "Gawker" ist immerhin ehrlich mit seiner Namensgebung. Denn auf der mieseste Patzer kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es natürlich weiterhin tiefe und nachhaltige Unterschiede zwischen hier und dort gibt: Zwischen den Bespaßern und den Bespaßten. Zwischen den Regierenden und den Regierten. Zwischen "Entscheidern" und "Minderleistern". Zwischen denen, die institutionelle Strukturen beeinflussen können und denen, die sich dem System wieder willig fügen müssen, wenn die Hymne vorbei und das Lachen verstummt ist.
Schon die mittelalterlichen Könige hatten soviel begriffen und ließen sich mit steter Regelmäßigkeit vom Hofnarren vorführen (der dann, wenn er eine der zahlreichen und unsichtbaren roten Linien überschritten hatte, wortwörtlich für solche Späße bluten konnte).
"Die Presse dient dem demokratischen Gedanken"
In Art. 3 des bayerischen Pressegesetzes heißt es:
"Die Presse dient dem demokratischen Gedanken. Sie hat in Erfüllung dieser Aufgabe die Pflicht zu wahrheitsgemäßer Berichterstattung und das Recht, ungehindert Nachrichten und Informationen einzuholen, zu berichten und Kritik zu üben."
Etwas schleierhaft ist es mir dann doch, wie falsche Noten und Liedtexte diesen demokratischen Gedanken voranbringen sollen. ‘Schade drum', kann man dann antworten. Das ist ein bisschen der Tenor einer aktuellen Studie der Ebert-Stiftung zum politischen Engagement junger Menschen. Schade, dass die Medien nicht besser berichten. Schade, dass die Politiker nicht etwas mehr Tacheles reden. Schade, dass sich Jugendliche übergangen fühlen. Man kann eben nichts erzwingen, man sollte jetzt und könnte jetzt und müsste jetzt...
Schade ist, wenn das Bier warm wird. Das hier ist dann - um auf Beckett zurückzukommen - doch eher tragisch. Während wir uns einerseits über Jugendproteste wundern, in trauter ideologischer Einigkeit den Kapitalismus verdammen und für mehr Partizipation auf die Straße und an die Wahlurne gehen, bewegen wir uns gleichzeitig mit der größten Lässigkeit in einer bunten Glitzerwelt, die Brot und Spiele als die passenden Antworten auf Frustration und Machtlosigkeit anzusehen scheint. Eine Welt, die auch vom Journalismus perpetuiert wird, auf Titelseiten zur Schau gestellt wird und somit als Teil des Kanons gesellschaftlicher Normalität gelten darf. Das Panorama-Ressort wird genau dort zum antidemokratischen Politikum, wo es zum Auffangbecken vorverdauter Bequemlichkeit wird. Wo System- und Politikkritik verseichtigt wird, anstatt sie zu reflektieren und aufzuarbeiten.
Es lässt sich ganz nett leben damit. Nur komisch ist es nicht. (Martin Eiermann, derStandard.at, 13.9.2011)