Am 9. September verschaffte der Standard seinen Lesern auf dieser Seite ein selten spannendes Leseerlebnis: die Kommentare zur Staatsschuldenpolitik von Gerhard Steger, Budgetsektionschef im Finanzministerium, und von Stephan Schulmeister, Wirtschaftsforscher in Wien und ökonomischer Wanderprediger vor nationalen und internationalen Foren.

Wer mit Budgetpolitik und dem Staatsschuldenproblem fachlich weniger vertraut ist, könnte aus der Lektüre schließen: "Wie immer widersprechen sich die Experten, das ist man ja von den Ökonomen sattsam gewohnt". Steger verteidigt einen strengen Budgetsanierungskurs, nicht nur weil er einen solchen zu exekutieren hat, sondern aus eigener - sozialdemokratischer - Überzeugung, und damit gegen viele Stimmen aus dieser Partei. Schulmeister wehrt sich gegen eine Schuldenbremse, weil sie in ein noch größeres budgetäres und politisches Chaos führen könnte.

Obwohl die Argumentation mit diesen oder ähnlichen Argumenten nicht nur in Österreich die politische Willensbildung enorm behindert und auch viele ökonomisch Geschulte dahinter unvereinbare Gegensätze sehen, widersprechen sich Steger und Schulmeister nicht unbedingt.

Steger argumentiert an die Adresse der Politik eines kleinen, offenen und von internationaler Finanzierung auf Kapitalmärkten abhängigen Staates, dessen sehr verdienstvoller Diener er ist. Und der hat die längerfristigen Perspektiven eines hochverschuldeten Staates im Auge. Gott sei Dank! Schulmeister argumentiert an die Adresse "fast aller Industriestaaten", die eine rigorose Sparpolitik zu betreiben versuchen und weist auf deren enorme kurzfristige Risiken hin.

Beide zu Recht: Der Unterschied liegt in der Adresse und in der Fristigkeit der Sicht.

Schulmeister, so richtig seine Überlegungen für eine funktionierende Staatengemeinschaft im Prinzip sein könnten, übersieht, dass "die Staaten", auch in der EU und gar im Euroraum enorme Unterschiede nicht nur der Verschuldung, der Wettbewerbsfähigkeit, der politischen Stärkeverhältnisse und der Einschätzung durch die "Märkte" aufweisen. Daher sind sie zumindest kurzfristig, obwohl Schulmeister mit Recht drängt, entweder nur zu faulen Ad-hoc-Kompromissen oder zu gar keiner Entscheidung fähig. Er geht darüber hinweg, dass seine Forderungen kurzfristig nicht demokratisch und legal umgesetzt werden können, weil sie Änderungen des EU-Vertrags voraussetzen. Wer ist für Schulmeister "der Staat", bitte um Adresse mit Postleitzahl! Was er mit Recht beklagt und was einen Ökonomen wie mich schon lange zutiefst erschüttert, ist, dass sich die verschiedenen Sekten der Ökonomie nach wie vor nicht ideologiefrei darauf einigen können, welche budgetpolitischen Strategien rational und in sich widerspruchsfrei wären, und schon gar nicht, was zu tun ist, wenn "der Staat" eben in aller Regel nicht rational und fehlerlos handelt oder unterlässt, besonders wenn er international am Pranger steht.

Was Stegers Plädoyer so wertvoll macht, ist sein Appell an die Sozialdemokratie, die Staatsverschuldung nicht nur unter Konjunktur- und Kaufkraftaspekten zu beurteilen, sondern aus sozialdemokratischer Sicht auf ihre perversen Folgen für die längerfristige Einkommens- und Vermögensverteilung und für den Generationenausgleich hin. Und, was Steger Schulmeister, der darüber völlig hinweggeht (seine fundamentale Schwäche) voraushat: Er hat Recht, wenn er vor dem Schuldenmachen dringend mehr Effizienz der staatlichen Leistungserbringung einmahnt. Allerdings ist Steger in der auch für ihn unkomfortablen Lage, dass er als einsamer Kämpfer diese Effizienz zu erzwingen versuchen muss, indem er querbeet Haircuts (proportionale Kürzungen) der Ausgaben anpeilt, und dabei auf die längerfristigen Folgen des Aushungerns von Universitäten oder der Folgen der demografischen Alterung nicht direkt Rücksicht nehmen kann.

Budgetäre Strukturreformen sind Regierungs- und Ministerverantwortung. Tatsächlich wären Steger und Schulmeister eher in Einklang zu bringen, wenn man annehmen könnte, dass echte Reformen - nicht nur auf der Ausgabenseite, sondern auch im Steuer- und Abgabensystem, wie sie das Wifo immer wieder einfordert - politisch gangbar wären (alles im Konjunktiv!): Das sind sie leider nicht.

Daran sind nicht allein die Ökonomen schuld. Aber die auch. Denn sie, auch Schulmeister, müssten ihren Blick über ihre aufs pur Ökonomische reduzierten Modelle hinaus auch auf die institutionelle Praxis und auf die oft ökonomisch irrationalen Umstände des Politikmachens richten, sonst stiften sie nur Verwirrung. Leider sind gerade in Österreich die Fächer "Public Management", "Politische Ökonomie der Staatsfinanzen" und "Politische Strategien in der EU" besonders krass unterentwickelt.

So scheinen wir leider auf eine Situation zuzusteuern, die beide kommen sehen: Schulmeister ("drei Minuten vor zwölf") und Steger ("Spielen mit dem Feuer"). Der Financial Times (übrigens meldet das kein österreichisches Medium) ist am gleichen Tag zu entnehmen, dass der Risikozuschlag (Spread) auf österreichische Staatsanleihen gegenüber deutschen ("Bunds") in ganz wenigen Wochen von etwas über 0,40 auf derzeit 0,75 Prozentpunkte gestiegen ist, also auf fast das Doppelte.

Steger ist sich dessen bewusst. Es geht um "ökonomische Landesverteidigung" (Steger). Der österreichischen Politik in dieser Situation beim Schuldenmachen "mehr vom Gleichen, nur so weiter" und "schlaft gut" zuzurufen, ist unangebracht. (Helmut Kramer, DER STANDARD; Print-Ausgabe, 14.9.2011)