Sie sind die seltsamste Attraktion des Valcamino, eines ausgedehnten Tals in Norditalien. Auf von Eiszeitgletschern flachgeschliffenen Felsen finden sich dort zahlreiche prähistorische Gravuren, Petroglyphen in der Sprache der Wissenschafter. Im regionalen Dialekt heißen sie Pitoti. Es sind simple Darstellungen von Menschen und Tieren, die wie Strichmännchen ausschauen. Ihr Alter: zwischen sechstausend und gut zweitausend Jahren.
Die Figuren bergen noch viele Geheimnisse. Experten schätzen ihre Anzahl auf mehr als 140.000, genauer weiß man es nicht, betont der britische Archäologe Christopher Chippindale von der University of Cambridge gegenüber dem STANDARD. "Dies ist die reichste Konzentration solcher Bilder in den Alpen", schwärmt der Wissenschafter. Ein Großteil dürfte gleichwohl noch begraben liegen, unter Erde und Humus, die sich hier im Laufe der Jahrtausende ansammelten. Bislang wurden erst rund 40.000 Pitoti zumindest ansatzweise von Fachleuten untersucht, erklärt Chippindale. "Die Erfassung schreitet ziemlich langsam voran." Es mangle an Zeit und Geld, und manche Landbesitzer sähen die Forscher auch nicht gerne auf ihrem Terrain.
Christopher Chippindale besuchte das Valcamonica 1983 zum ersten Mal und kehrte erst 2008 dorthin zurück, nun in Begleitung seines Kollegen Fred Baker, der sowohl in Cambridge als auch als Senior-Research-Lecturer an der Fachhochschule Sankt Pölten forscht. Die Wissenschafter hatten sich vorgenommen, die kulturelle Funktion der Pitoti zu ergründen. Zu welchem Zweck hatte man sie so zahlreich in die Felsen geritzt? Baker und Chippindale starteten das Prehistoric Pictures Project (PPP). Schon bald schlossen sich ihnen weitere Forscher unterschiedlicher Richtungen an.
Ein interdisziplinäres Unterfangen. Und das ist es bis heute. Mittlerweile arbeiten vor allem Medienspezialisten mit den Archäologen zusammen. Damit eröffnen sich der Forschung ganz neue Perspektiven. Das Team hat inzwischen eine eigene Theorie zur Bedeutung der Pitoti hervorgebracht. Demnach seien die Gravuren nicht einfach nur als lose Ansammlungen von Darstellungen zu sehen, sondern als örtliche Gesamtkunstwerke mit einem - früher - deutlich festgelegten Zweck. Pitoti-Plätze sind so etwas wie urzeitliche Kinosäle, meint Chippindale.
Animierte Figuren
Die damaligen Bewohner des Valcamonica, ein Stamm namens Camunni, führten an diesen Orten vermutlich regelrechte Performances durch. Wenn man die Figuren betrachtet, fällt einem schnell auf, wie animiert sie wirken, so Chippindale. "Sie sehen aus wie Comiczeichnungen." Zwischen den einzelnen Gravuren dürfte es Zusammenhänge geben, die wir heute nicht mehr nachvollziehen können, längst vergessene Geschichten eben.
"Der Begriff Urzeitkino ist eine Art Metapher", betont Christopher Chippindale. Natürlich hatten die Künstler vor mehr als zweitausend Jahren noch keine Möglichkeiten, Bilder in Bewegung zu setzen. Doch möglicherweise konnten die Menschen beim Betrachten der Gravuren diesen fehlenden Aspekt im Kopf ergänzen. Computeranimationen haben das diesbezügliche Potenzial der Figuren aufgezeigt. Ihre Wirkung ist äußerst dynamisch, erläutert Chippindale. "Sie haben wenig Details, aber sagen einem dennoch, was man wissen muss." Auch die "topografische Logik" der Orte mit Pitoti-Ansammlungen weist auf eine Funktion von Kinosälen hin, so der Archäologe. Vor den glatten, vertikalen Felsen mit Gravuren gibt es ebene Flächen - vermutlich die Zuschauerräume.
Besondere Klangbedingungen
Anscheinend waren die mutmaßlichen Aufführungen auch etwas für die Ohren. Hinter den Felsgravuren gibt es meistens hohe Klippen. Schon zu Beginn der Untersuchungen war Baker und Chippindale aufgefallen, dass an Pitoti-Plätzen ungewöhnliche Klangbedingungen herrschten. Zufall? Wohl kaum. Um der Sache auf den Grund zu gehen, ließ man Tonkünstler mit einem besonders entwickelten Gehör probeweise an diesen Orten spielen, berichtet Hannes Raffaseder, Komponist, Medientechnologe und Vizerektor der FH Sankt Pölten. Zuerst kam dabei ein Alphorn zum Einsatz, später ein Kuhhorn. Letzteres dürfte den früheren Instrumenten der Camunni am ehesten entsprechen und ist im Vacamonica auch heute noch vereinzelt in Gebrauch.
Das Ergebnis dieser Freilandversuche: "Die Musiker haben zumindest an den drei ältesten Stellen ganz besondere Akustiken festgestellt", sagt Raffaseder. "Es gibt dort ganz ausgeprägte Echos und sich dadurch ergebende Nachhalle. Ähnliches kennen wir von großen Kirchen und Kathedralen." Für die Menschen damals seien solche Soundeffekte womöglich eine Art übernatürliche Erfahrung gewesen. "Ich stelle mir das so vor, dass man dem Fels zurufen konnte und der Fels antwortete", ergänzt Chippindale.
Die weitere Erforschung der Pitoti und ihres Umfelds wird zweifellos noch mehr faszinierende Details ans Licht bringen - dank modernster Verfahren. Die technische Betreuung des Prehistoric Pictures Project liegt komplett in Händen von Fachleuten der Sankt Pöltener Fachhochschule. Dokumentation, Digitalisierung und Archivierung der Petroglyphen erfolgen unter anderem mittels hochauflösender Panoramabilder und HD-Videos, erklärt Hannes Raffaseder. "Ausgehend von diesem Dokumentationsmaterial versuchen wir, für die Archäologen neue Methoden zu entwickeln."
So werden derzeit zum Beispiel die Felsgravuren dreidimensional analysiert. Bisher hat man die Darstellungen nur zweidimensional betrachtet, sagt Christopher Chippindale. "Dreidimensional bekommen wir aber ein besseres Verständnis hinsichtlich der Natur dieser Figuren." Ihre Form ist oft durch Erosion verändert worden, doch die digitale Technik ermögliche es, anhand winziger Details Rückschlüsse auf die ursprüngliche Gestalt und auf die Gravurtechnik zu ziehen. "Jetzt arbeiten wir an der Entwicklung einer Software, welche ganz subtile Unterschiede in der Textur der Zeichen beschreiben soll." Solche sind momentan für geübte Augen zwar erkennbar, aber nicht klar definierbar, meint Chippindale.
Performance der Forschung
Das Team hat sich indes nicht nur zu rein wissenschaftlichen Studien inspirieren lassen. Praktisch nebenbei konzipierte Frederick Baker eine sogenannte Medienoper mit dem Titel Pitoti - Echoes of the Echoes, eine Performance, die aus Text, Musik und Bildern zusammengesetzt ist und das Publikum explizit mit einbezieht.
Das Werk wird am 23. September im Rahmen der "European Researchers Night" an der FH Sankt Pölten öffentlich aufgeführt. Es handelt sich dabei nicht um den Versuch, die ursprünglichen Vorstellungen der Camunni nachzustellen, sondern um eine eigene Interpretation, einen "audiovisuellen Forschungsbericht", wie Hannes Raffaseder betont. "So wollen wir Wissenschaft und Kunst in ein Boot bringen." (DER STANDARD, Printausgabe, 14.09.2011)