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Geschwisterliebe unter Gänseküken: Im Gegensatz zur Eltern-Kind-Beziehung ist kaum erforscht, wie gut sich die Jungen untereinander kennen.
Dabei zeigten sich die Gänse durchaus lernfähig.
Für uns Menschen gleichen Graugänse einander ungefähr so wie ein sprichwörtliches Ei dem anderen. Untereinander tun die Tiere jedoch gut daran, individuell zu erkennen, mit wem sie es gerade zu tun haben: Wenn man in Gruppen mit komplexen Sozialstrukturen lebt, ist es vorteilhaft zu wissen, mit wem man zum Beispiel kürzlich Streit hatte oder wer im Fall einer Auseinandersetzung auf wessen Seite steht. Wie gut Graugänse darin wirklich sind, untersuchten Isabella Scheiber und ihre Kollegen von der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle für Ethologie in Grünau mit finanzieller Unterstützung des Wissenschaftsfonds FWF.
Was man schon länger weiß, ist, dass viele Vögel keine Schwierigkeiten haben, Verwandte von nicht Verwandten zu unterscheiden. So werden Hilfe und Unterstützung bevorzugt Familienmitgliedern zuteil. Das allein setzt allerdings noch kein individuelles Erkennen voraus: Sumpf- und Rauchschwalben etwa unterstützen Tiere, die ihnen am meisten vertraut sind. Unter natürlichen Umständen sind das Verwandte, aber wenn nicht, macht es für die Vögel auch keinen Unterschied. Das besondere Augenmerk der Forscher lag bei solchen Untersuchungen vor allem auf der Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Kaum bearbeitet wurde dagegen, ob und wie gut Geschwister einander erkennen.
Das "Personen"-Gedächtnis von Tieren erfordert nicht nur einiges an kognitiven Leistungen von den Tieren selbst, sondern auch von den Experimentatoren, die es testen wollen. Die Grünauer Forscher ließen sich dafür eine originelle, ganz neue Versuchsanordnung einfallen: 15 Grauganseier, die teils aus Grünau, teils aus Italien stammten, wurden im Inkubator ausgebrütet und die Jungen sofort nach dem Schlupf von Hand aufgezogen.
Die Küken (acht Weibchen, sieben Männchen) waren also nur teilweise verwandt, doch solange sie gemeinsam aufwachsen, betrachten sie einander in jedem Fall als Familie. Die Untersuchungen begannen, als die kleinen Gänse sieben Wochen alt waren, da Scheiber und ihr Team davon ausgehen, dass eine so wichtige Fähigkeit wie Individual-Erkennung bereits früh im Leben entsteht.
Zuerst wurden die Junggänse darauf trainiert, einen Leckerbissen – im konkreten Fall ein Stückchen Brot – aus einem Becher zu holen, indem sie dessen Deckel wegbugsierten. Danach ordneten die Experimentatoren jedem Küken ein bestimmtes geometrisches Symbol zu, etwa einen Stern oder ein Dreieck. Die Küken sollten lernen, das Symbol – gleich einem Namen – mit dem jeweiligen Gruppenmitglied zu assoziieren.
Symbol mit Brot
Zu diesem Zweck kamen immer zwei Tiere gleichzeitig in das Versuchsgehege, in dem ein Becher mit einem Brotstück darin auf das Individuum wartete, das gerade im Mittelpunkt des Interesses stand. Auf dem Deckel befand sich das Symbol des jeweils anwesenden anderen Kükens. Das Junge, das gerade mit Lernen dran war, durfte den Becher 25-mal öffnen (und das Leckerli konsumieren), ehe es weiterging zu den echten Erkennungstests.
Dabei wurde jeweils ein Gänsejunges mit zwei Bechern konfrontiert, auf denen zwei verschiedene Symbole abgebildet waren. Nur ein Becher enthielt das Brotstück, und zwar jener, der das Symbol des Kükens trug, das mit im Gehege war. Das Versuchsküken durfte in der Folge nur einen der beiden Becher öffnen. Da es gelernt hatte, dass die Anwesenheit eines bestimmten Kükens auch Brot im Becher bedeutet, sollte es das anwesende Tier erkennen und daher wissen, welches Symbol ihm zugeordnet war.
Wenn es zweimal in mindestens 13 von 16 Versuchen den richtigen Behälter wählte, gingen die Forscher davon aus, dass es nicht nur Glück gehabt, sondern das Geschwister erkannt hatte.
Zehn der 15 Versuchsteilnehmer absolvierten die Tests erfolgreich, wobei die Männchen auf den ersten Blick deutlich schlechter abschnitten: Während 70 Prozent der weiblichen Küken ihre Geschwister persönlich erkannten, schafften es nur 20 Prozent der männlichen. Das lässt sich gut argumentieren: Graugansweibchen entwickeln langanhaltende Beziehungen zueinander und profitieren von diesen stärker als die Männchen, sodass individuelles Erkennen für sie mehr Vorteile hätte. Bei näherer statistischer Betrachtung jedoch zeigte sich bei den Grünauer Experimenten kein signifikanter Unterschied zwischen den Geschlechtern.
Warum fünf Küken allem Anschein nach nicht imstande waren, ihre Geschwister zu erkennen, muss noch näher untersucht werden. Denkbar ist aber, dass sie mit der geistigen Verbindung zwischen einem bestimmten Individuum und seinem Symbol überfordert waren. Das kann an mangelnder genetischer Ausstattung liegen oder auch auf anderen Effekten beruhen wie etwa den Hormonen oder dem menschlichen Erziehungsstil. (DER STANDARD, Printausgabe, 14.09.2011)