Wien - "Ich richte dir den Steigbügel, ich helf dir in den Sattel, aber reiten musst du selber." Dieser Leitsatz begleitet den Sonderpädagogen Wolfgang Riebniger bei seiner Arbeit mit jugendlichen Straftätern. Seit über 20 Jahren unterrichtet er als Lehrer in der Justizanstalt Wien-Josefstadt.
Nach der Schließung des Jugendgerichtshofs in der Rüdengasse im dritten Wiener Gemeindebezirk samt der Jugendhaftanstalt im Jahre 2003 wurden jugendliche Inhaftierte in die Justizanstalten Josefstadt und Gerasdorf verlegt. Die häufigsten Gründe für eine Inhaftierung sind Einbruch, Diebstahl und Raub. Dennoch müssen viele Inhaftierte noch die Schulpflicht beenden.
In der hauseigenen Schule erlernen sie alle Inhalte, wie sie in "normalen" Schulen auch unterrichtet werden. Die übrigen Inhaftierten können eine Lehrausbildung wie zum Beispiel Tischler, Koch oder Maler absolvieren. Bereits in der Untersuchungshaft werden sogenannte "Schnupperlehren" angeboten, um den Jugendlichen mögliche Berufe näherzubringen. Das Ehepaar Riebniger arbeitet schon seit über 20 Jahren im Gefängnis, und die Auseinandersetzung mit den Jugendlichen zählt zu ihren Hauptaufgaben. Riebniger arbeitet als Sonderpädagoge des Stadtschulrats, wohingegen die Sozialarbeiterin Andrea Moser-Riebniger eine Abteilung der Strafvollzugsdirektion leitet und Bildungs- und Resozialisierungskonzepte für Jugendliche Häftlinge entwickelt.
"Die Jugendlichen, die in Haft kommen, haben ganz unterschiedliche Hintergründe", erklärt Moser-Riebniger. Jedoch könne man dies nicht nur auf zerrüttete Familienverhältnisse zurückführen: "Kriminalität setzt sich aus vielen kleinen Mosaiksteinchen zusammen." Zu seinen "Burschen", wie sie Riebniger nennt, habe er eine "vertrauensvolle, aber gesund distanzierte Beziehung". "Das bekomme ich auch durch Rückmeldungen zurück. Inhaftierte Jugendliche sind unwahrscheinlich ehrlich, sie sagen, was sie sich denken", erzählt er. Dennoch beeinflusse die Tatsache, dass seine Schüler straffällig geworden sind, nicht seinen Umgang mit ihnen. Für Außenstehende möge es problematisch erscheinen, mit straffällig gewordenen Menschen zu arbeiten, doch "den Burschen ist das Vergehen ja nicht auf die Stirn geschrieben. Sie treten nicht täglich als Mörder, Vergewaltiger oder Räuber auf, sondern als Menschen."
"Einstiegsdroge Kreativität"
Mithilfe von kunstpädagogischen Projekten gibt er den Jugendlichen Raum, ihre Gefühle auf anderer Ebene auszudrücken und diese für sich selbst klarer definieren zu können.
"Kreativität fungiert als Einstiegsdroge, dann als intellektuelles Transportmittel. Hier sehen Sie die Zeichnung eines jungen Häftlings, auf der das Weltall zu sehen ist. Alle Planeten sind vorhanden. Welcher davon ist mein Klient, glauben Sie? Es ist der Kleinste, unten links. Viele Häftlinge haben ein Selbstbewusstsein wie eine Weinbergschnecke", erzählt Riebniger. Auch wenn die Jugendlichen nicht direkt ihr Inneres preisgeben, lasse sich aus einer Zeichnung beispielsweise die Familiensituation herauslesen.
Doch nicht nur Kunst ist dem Lehrer im Rahmen des Unterrichts wichtig, sondern der generell offene und individuelle Zugang. "Ich habe ein bestimmtes pädagogisches System, das nennt man offenes Lernen. Wir haben keine Schularbeiten oder Tests", was seine Schüler oft irritiere. Stattdessen erarbeiten sich die Jugendlichen jene Themen selbst, die sie besonders interessieren. "Wir drehen die Sache um: Denn es ist schwieriger, gute Fragen zu stellen, als sie zu beantworten. Daher bitte ich die Schüler, mich zu ihren Themen zu befragen", schildert Riebniger. Außerdem gebe es für besondere Leistungen "Musterschülerkekse" und als Motivationsmittel "Schönschreibsoletti".
Diese Umgangsform bereitet den Jugendlichen eine willkommene Abwechslung zum harten Gefängnisalltag. Bedrückend sei für die Häftlinge die zwar notwendige, aber einengende Fremdbestimmtheit, weiß Moser-Riebniger. "Stellen Sie sich einen Raum vor, in dem man 24 Stunden sieben Mal die Woche verbringt, aber eines fehlt an der Tür: die Klinke", ergänzt ihr Mann.
Um das österreichische Strafvollzugssystem vor allem für Jugendliche zu verbessern, wünscht sich Moser-Riebniger mehr Betreuungspersonal, "damit man besser auf die Defizite eingehen kann." Auch die Suchtmittelbehandlung müsse verbessert werden. Während Moser-Riebniger einige Mängel am System erkennt, spielt ihr Gatte den Ball ein Stück weit auch an die Jugendlichen zurück. "Wenn ein Justizwachebeamter sagt: 'Du bist ja freiwillig hier!', kann man das zynisch sehen, aber im Endeffekt steckt ein wahrer Kern dahinter."
"Es ist wichtig, die jungen Klienten immer wieder mit dem Delikt zu konfrontieren, damit es zu keinem Rückfall kommt. Was wir aber vor dem Gefängnis bräuchten, wäre eine Institution, wo die Türen auch Innen Klinken haben", ist Riebniger überzeugt. (Lukas Fasching, Milena Klien, Elisabeth Frommelt, Magdalena Polak, Nikolaus Soche, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.9.2011)