Leuchtturm in der Djnepr-Mündung, erbaut von Wladimir G. Schuchow 1911.

Foto: Andrij Kutnyi / TU Münche

München - Der Russe Wladimir Grigorjewitsch Schuchow (1853-1939) war ein visionärer Konstrukteur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, dennoch ist sein Name heute bei weitem nicht so bekannt wie etwa der Gustave Eiffels. Ein internationales Forscherteam untersucht nun Entstehung, Tragverhalten und Zustand von Schuchows charakteristischen Gitterkonstruktionen. 

Vorbildlich materialsparend

Als erster Wissenschafter hat Andrij Kutnyi von der Technischen Universität München (TUM) Zugang zu den 100 Jahre alten Schuchow-Leuchttürmen am Schwarzen Meer erhalten. Deren Konstruktion war vor 100 Jahren ohne jedes Vorbild: Auf eine Kreislinie stellte Schuchow zwei Gruppen parallel angeordneter Stäbe, die er gegeneinander verdrehte. So bekommt der Turm eine hyperbolische Form mit einer Taille, wie man sie heute von Kühltürmen kennt.

Diese vermeintlich simple Anordnung braucht nur sehr wenig Material: Während für den 300 Meter hohen Eiffelturm rund 10.000 Tonnen Stahl verbaut wurden, plante Schuchow für einen (letztlich nicht realisierten) 350 Meter hohen Funkturm in Moskau mit gerade einmal 2.000 Tonnen Stahl. Zum anderen erreichte er trotz des Leichtbaus eine überraschend hohe Stabilität. Die gegeneinander gerichteten Krümmungen des Gitters bewirken, dass es große Lasten tragen kann.

Sieben Jahre nach der Einweihung des Eiffelturms auf der Pariser Weltausstellung von 1889 präsentierte Schuchow den ersten dieser Türme auf der Allrussischen Ausstellung in Nischni Nowgorod. Ein wahrer Bauboom von Wassertürmen, Öl- und Gastanks oder Stromleitungsmasten folgte. Russen und Amerikaner nutzten die Technik wegen ihrer Widerstandskraft für die Funktürme ihrer Kriegsschiffe. Bis heute kommt sie zum Einsatz: Das Tragwerk des jüngst fertiggestellten Canton-Towers im chinesischen Guangzhou, des mit 600 Metern dritthöchsten Gebäudes der Welt, beruht auf der Struktur. 

Aus der Vergessenheit zurückholen

"Schuchow hat eines der klügsten und zugleich anspruchsvollsten Konstruktionsprinzipien in der Geschichte des Bauens mit Eisen erfunden", sagt Kutnyi. Es war nicht die einzige revolutionäre Idee des vielseitigen Chefingenieurs einer großen Baugesellschaft. Er entwickelte Hängedächer, Bogentragwerke und Gitterschalen, die oft erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen wurden, etwa bei den Dächern der Münchner Olympiabauten. "Schuchow ist einer der wichtigsten Pioniere des Leichtbaus", betont Matthias Beckh vom TUM-Lehrstuhl für Tragwerksplanung. Dennoch sind seine eigenen Bauten im Westen in Vergessenheit geraten, die Leuchttürme am Schwarzen Meer höchstens Kapitänen ein Begriff.

Das erste Ziel des interdisziplinären Forschungsprojekts mit Wissenschaftern der Universität Innsbruck und der ETH Zürich ist deshalb, sämtliche Bauwerke Schuchows zu identifizieren - mehrere in der Zwischenzeit in Vergessenheit geratene haben die Wissenschafter bereits wiederentdeckt. Viele Türme sind von Verfall und Zerstörung bedroht, obwohl die Schäden wiederum ihre hohe Standfestigkeit beweisen: Ein Hochspannungsmast hielt sich aufrecht, obwohl schon 16 von 40 Füßen fehlten; den Wissenschaftern gelang es, seine Sanierung zu initiieren. Andere Bauten sind bereits vernichtet. Erst kürzlich wurde ein Turm, den die Forscher als Schuchow-Werk gerade erst entdeckt hatten, demontiert.

Nach dieser Bestandsaufnahme wollen Bauforscher der TU München die Entstehung der Bauwerke rekonstruieren, zudem wird die Stabilität genauer unter die Lupe genommen. Um zu klären, welche Parameter die Form der Hyperboloide bestimmen und welche Wechselwirkungen Geometrie und Tragverhalten zeigen, sollen unter anderem Modelle der Türme im Windkanal getestet werden. Die Wissenschafter hoffen, dass ihre Forschung die Bauwerke bekannter macht und damit auch die Chance auf deren Erhalt erhöht. (red)