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Die Geburt des Albtraums aus der Verdrängung der Sexualität: Die Gouvernante (Sally Matthews) steht in dunklen Träumen und starrt Bilder an, die sie an den Rand des Abgrunds bringen.
Das ORF RSO Wien präsentiert sich mit Dirigent Cornelius Meister auf Spitzenniveau.
Wien - Die "vage, undetaillierte, schwache Skizze" einer "Geistergeschichte" habe ihm der Erzbischof von Canterbury da erzählt, nachdem sie diesem von dritter Hand zugetragen worden sei. Das notierte Henry James im Jahre 1895 - und formulierte zugleich auch die Notwendigkeit, die überaus "suggestive" Erzählung noch einmal anders wiederzugeben.
Rätselhaft bleibt das Geschehen rund um ein verstorbenes Dienerpaar, das in einem entlegenen Landgut herumspukt und Kinder in Gefahr bringt, auch in der Novelle The Turn of the Screw des amerikanischen Romanciers - ebenso wie in der gleichnamigen Oper von Benjamin Britten, mit der das Theater an der Wien die aktuelle Saison am Mittwoch szenisch eröffnete.
Auch Regisseur Robert Carsen hat vieles an der verworrenen, ausgiebig mit dunklen Andeutungen operierenden Story offengelassen, aber eine zusätzliche Erzählebene eingezogen, indem er - in der eigenen, sparsam möblierten Ausstattung - filmische Elemente mitlaufen lässt. Diese Entscheidung ist in doppelter Hinsicht schlüssig: Das Libretto von Myfanwy Piper war ursprünglich für ein Filmprojekt konzipiert; und auch in der Musik sind die sechzehn Szenen, die auf einen Prolog folgen, in geradezu filmischer Manier aneinandergereiht.
Britten hat sie in raschen Schnittfolgen komponiert; dort, wo solistische Passagen wie ein psychologischer Zoom in einen gequälten Kopf anmuten, in dem die Gedanken im Kreis laufen, ließe sich mit Recht von musikalischen Großaufnahmen sprechen.
Verdrängungsmechanismen
Überzeugend hat der Regisseur schon den heiklen Prolog gelöst, in dem eine nicht näher bestimmte Figur die folgende Opernhandlung anreißt: Carsen zeigt ihn im Stil eines Diavortrags, dessen Schwarz-Weiß-Bilder dann mit dem Beginn der eigentlichen Oper zu laufen beginnen und die Reise der Gouvernante zu den beiden ihr anbefohlenen Schützlingen, einem Mädchen und einem Buben, zeigen. Die Bedrohungsszenarien, die in der Oper in ein unausgesetztes Crescendo des Suspense münden, lässt er mit psychoanalytischer Schärfe in der Seele dieser Frauenfigur wurzeln.
Zentrale Bilder in Carsens dichter Studie der seelischen Regungen der namenlosen Gouvernante sind Traumszenen, in die jene Erotik verbannt ist, wie sie in ihrem Lebensentwurf ansonsten so gar keinen Platz zu haben scheint.
Ein unschuldiger (?) Kuss, den ihr der Bub verpasst, wird dann zu jenem "Bösen" umgedeutet, von dem ständig die Rede ist, das aber in der gesamten Oper niemals konkretisiert wird. Mit den beiden diffusen Gespensterfiguren findet die Regie einen ähnlich aufgeklärten Umgang: Sie werden ebenfalls als Projektionen greifbar.
Solche szenische Konzentration wäre ohne entsprechendes musikalisches Pendant nicht annähernd so wirkungsvoll. Unter Leitung seines Chefdirigenten Cornelius Meister musizieren Solisten des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien auf Spitzenniveau, erbringen den nötigen Sog - mitunter allerdings fast so brillant und virtuos, dass das Brüchige an Brittens Partitur ein wenig ins Hintertreffen zu geraten droht.
Bei den Sängern bleiben freilich gar keine Wünsche offen: Nikolai Schukoff, der wie üblich sowohl den Sänger des Prologs als auch die Rolle des ehemaligen Dieners Quint gibt, singt seine Kantilenen glasklar und geheimnisvoll-verführerisch; die dunkel tönende Jennifer Larmore als Quints Gefährtin Miss Jessel verströmt auch stimmlich geballte Sinnlichkeit.
Neben den beiden hochprofessionell agierenden jugendlichen Darstellern (Eleanor Burke als Flora und Teddy Favre-Gilly als Miles) und der eindringlichen Ann Murray (als Haushälterin Mrs. Grose) verlegt Sally Matthews als Gouvernante all ihre Konflikte und Seelenqualen nach innen, also auch ins Vokale - eine absolut souveräne Darstellung von Beklemmung und Einsamkeit. Auch wenn dem Rätsel der Spuk ausgetrieben ist, wird die Geschichte mitsamt ihrem (für Miles) letalem Ende damit noch grausiger gemacht - was das Premierenpublikum mit enthusiastischem Jubel quittierte. (Daniel Ender / DER STANDARD, Printausgabe, 16.9.2011)