Wut, Empörung, expressive Sprachkraft: Franz Innerhofer.

Foto: Sepp Dreissinger

"Der Pflege einer kinderlosen Frau entrissen, sah Holl sich plötzlich in eine fremde Welt gestellt." Mit diesem Satz, der am Beginn seines ersten Romans Schöne Tage steht, trat der dreißigjährige Franz Innerhofer 1974 in die Weltliteratur ein. Das ist jetzt fast vierzig Jahre her, in denen sich die Welt gründlich verändert hat, auch im Pinzgau, wo der Autor am Bauernhof des Vaters in Uttendorf aufwuchs und sich als dessen unehelicher Sohn in die Knechtschaft verstoßen fühlte.

Nicht schwer zu verstehen ist, warum dieser Roman, als er erschien, so gegensätzliche Reaktionen hervorrief: Begeisterung bei vielen Lesern im ganzen deutschen Sprachraum und bei der literarischen Kritik, die dem Debütanten einen genialen "Alleingang", die Neuerfindung des Heimatromans aus dem Geist radikaler Kritik bescheinigte; Empörung in Uttendorf, im Pinzgau, in der Familie, die sich schuld- wie wehrlos an den Pranger gestellt fühlte, und bei den Wächtern der literarischen Tradition und bodenständigen Kultur. Dass Schöne Tage solche Resonanz fand, erscheint heute einleuchtend. Über nichts wurde in der Literatur so lange so selig gelogen wie über das bescheidene, doch erfüllte Leben auf dem Land, wo wackere Menschen noch Maß und Ziel kennen und sich in die "Fröhliche Armut" fügen, wie sie Karl-Heinrich Waggerl in einem populären Roman dieses Titels verklärt hatte.

Und jetzt trat ein junger Mann an, der die Welt, über die er schrieb, aus eigenem Erleiden kannte und der das schöne Land, das heile Dorf, die gottesfürchtige Bauernfamilie so wütend und präzise, so leidenschaftlich und kompromisslos attackierte, wie es vor ihm kein anderer in deutscher Sprache getan hatte.

Der Sohn des Bauern, der sich als "Leibeigener" seines Vaters empfand, hat die in Hunderten von Büchern und Filmen verfestigte Lüge, dass die Heimat unbesehen wert und teuer war, zerschlagen und Ausbeutung, Entwürdigung, Gewalttätigkeit bei ihren rohen Namen genannt.

Das hat den einen die Augen geöffnet und sie vielleicht zum ersten Mal einen Blick auf das Elend im ländlichen Österreich werfen lassen, das sonst gut hinter Phrasen verborgen lag; den anderen hingegen ging der der Mund vor rechtschaffener Erregung über, sie verlangten ein "sauberes Schrifttum" für einen "sauberen Pinzgau", um den beliebten Heimatdichter Konrad Nusko zu zitieren, und erklärten Innerhofer zum Schmutzfinken, Nestbeschmutzer, kommunistischen Agenten. Das alles liegt bald vier Jahrzehnte zurück, und der Autor, der seiner literarischen Erfolge nie recht froh zu werden vermochte, sondern stets fürchtete, dass er mit Ehrungen und Preisen um sein Rebellentum gebracht und mit der Gesellschaft ausgesöhnt werden solle, ist schon fast zehn Jahre tot. Sein Roman ist ein Klassiker geworden, und er selbst, einst von deren Autoritäten als Verräter an der Heimat gescholten, gilt auch dort, von wo er herkam, längst als großer Sohn des Landes.

So viele Bücher, die in jenen Jahren mit Auszeichnungen bedacht oder öffentlicher Schelte belegt wurden, sind heu-te vergessen. Das Erstlingswerk dieses Fremdlings, der vom Leibeigenen zum Schmiedelehrling, vom Abendgymnasiasten zum Studenten wurde, ist geblieben. Es wird alle paar Jahre wiederaufgelegt, in den Schulen - auch im Pinzgau - gelesen und seither von jeder Generation lesender Menschen neu entdeckt. Getrost kann man davon ausgehen, dass Schöne Tage , das von so viel Qual und Unrecht erzählt, auch nach weiteren vierzig Jahren gelesen werden und von einer Welt zeugen wird, die es bereits jetzt nicht mehr gibt.

Nicht dass seit Innerhofers Jugend alles besser geworden wäre! Aber in keiner katholischen Kirche muss ein Kind, das in der Messe unaufmerksam war, noch zur belehrenden Demütigung im Mittelgang knien. Und Lehrer und Direktoren, wie sie in Schöne Tage ihren Beruf alle Tage als hemmungslose und trunksüchtige Prügler ausüben, wird man nicht mehr finden. Junge Frauen, die ein uneheliches Kind zur Welt bringen, gelten auch im ländlichen Raum nicht mehr als Huren, die froh sein müssen, sich gegen einen Bettel zu verdingen.

Die Ausbeutung der Knechte und Mägde gibt es noch, aber nicht in der Weise, wie Innerhofer sie drastisch dargestellt hat. Er erzählt in seinem autobiografischen Roman nicht nur vom sturen, grandiosen Kampf um seine persönliche Befreiung, sondern auch von einem allgemeinen ökonomischen und sozialen Wandel.

Die Macht des Bauern über sein land- und rechtloses Gesinde wird noch in dem Zeitraum, den Innerhofer mit seiner eigenen Geschichte ausschreitet, gebrochen, weil Industrie und städtisches Gewerbe mehr Lohnarbeiter benötigen und sich so den Knechten, Mägden und den beim Erbfall leer ausgegangenen Söhnen und Töchtern der Bauern eine Alternative bietet: Sie müssen nicht als Befehlsempfänger um wenig mehr als das pure Überleben auf den Bauernhöfen bleiben, sie können ihre Arbeitskraft auch in der Stadt anbieten.

Dieses Buch hat seinen Autor überlebt und wird uns überleben. Ich habe Schöne Tage dreimal gelesen. Als 20-jähriger Student der Germanistik hat mich fasziniert, dass dieser 30-jährige Germanistik-Student mit Wut, Empörung und expressiver Sprachkraft die heile Welt als Hölle zeigte; von Salzburg, seinen Gauen, den Dörfern und Tälern wusste ich fast nichts, aber dass es dort genauso schlimm zugehe, wie Innerhofer es in seiner literarischen Höllenfahrt nach Uttendorf schilderte, glaubte ich sofort.

So düster die Welt war, die er schilderte, konnte ich mir den Autor nicht anders denn als glücklichen Menschen vorstellen. Wer sich in der Sprache und mit der Sprache so weit aus dem Dreck zu erheben wusste, in den er als Kind geworfen wurde, der zeugte mit seiner Existenz, dass die Zukunft nicht bereits verspielt war.

Achtzehn Jahre später belehrte mich Innerhofer eines anderen. Er hatte mich besucht, weil er den Mann kennenlernen wollte, der 1993 über sein fünftes Buch Um die Wette leben rühmende Worte veröffentlicht hatte. Wiewohl er nicht gelungen ist und für vieles kritisiert zu werden verdient, hat dieser Roman beeindruckende Passagen. Was mich befremdete, war nicht, dass harsche Kritiken erschienen, sondern dass diese wie mit schmallippiger Genugtuung verfasst schienen. In den Verrissen, die es hagelte, klang es fast so, als wäre die natürliche Ordnung dadurch wiederhergestellt, dass der Knecht, den es hochmütig gereizt hatte, Dichter zu werden, wieder in sein Elend zurückkehren musste. Dem Autor wurde der literarische Totenschein ausgestellt, dabei lebte er und hatte nur eben keinen besonders guten Roman veröffentlicht.

Jetzt saß er mir am großen Tisch in unserer Küche gegenüber, und ich begleitete ihn in seiner Verbitterung in einen gewaltigen Rausch. Die große Pranke hatte er um das Glas wie um ein Arbeitsgerät gelegt, und er trank bis in den Morgen vom herben Veltliner, als wäre auch das Saufen eine Arbeit, die bedächtig und ausdauernd erledigt werden muss.

Er war noch keine fünfzig, aber galt bereits als "erledigter Fall", als Autor, der sich endgültig aus der Literatur "hinausgeschrieben" habe, wie es tatsächlich in einer Besprechung geschrieben stand. Damals erschien er mir als düsterer, von altem und neuem Unglück umfangener Mensch, den der grandiose literarische Ausbruch aus der über ihn verhängten Sprachlosigkeit nicht glücklich gemacht hatte.

Wiederum 18 Jahre später, habe ich Schöne Tage nun zum dritten Mal gelesen. Merkwürdig genug, entdeckte ich anderes als die beiden Male vorher. Bei der neuerlichen Lektüre fielen mir die vielen Stellen auf, in denen Innerhofer der Düsternis etwas Lichtes entgegensetzte, eine Gestalt, deren Charakter nicht von Elend und Unrecht zerstört ist, eine Haltung, wie angetan, schon in schlechten Zeiten an bessere zu gemahnen, ein Bild, einen Traum, einen Moment des Glücks. Lesend kam mir vor, dass Schöne Tage nicht nur ein sarkastischer Titel sei, sondern Innerhofer tatsächlich überzeugt war, dass es schönere Tage, ein besseres Leben, nicht im Jenseits, sondern auf Erden, geben könne.

Dass Schöne Tage seinerzeit Kontroversen hervorrief, ist nachträglich leicht zu erklären. Dass dieser Roman, obwohl er eine Welt beschreibt und anklagt, die sich wesentlich verändert hat, auch 40 Jahre später spannende, aufwühlende Lektüre bietet, hängt mit seinen vielen Qualitäten zusammen, mit seiner Wucht der Verzweiflung, mit dieser düster expressiven Sprache. Vor allem aber doch damit: dass die wahre Geschichte eines Landes, einer Region, einer Epoche in den Werken der Literatur zu finden ist. (Karl-Markus Gauß, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 17./18. September 2011)