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Ob im Zentrum von Nanjing bei Tag (li.) oder in Schanghai bei Nacht: Die Autos in Chinas Millionenstädten stehen mehr, als dass sie führen.

Foto: AP/Reuters

Chinas autofreundlicher Premier machte eine 180-Grad-Wendung: "Wir müssen unbedingt mehr Aufmerksamkeit auf die Entwicklung des öffentlichen Nahverkehrs richten und nicht auf die Produktion von Pkws. (...) Ehrlich gesagt, ich finde es nicht gut, wenn jeder sich einen Pkw kauft."

Welche Stadt könnte es verkraften, wenn jede Familie ein Auto hat. "Das geht nicht. Wo soll das Öl herkommen?" Von den gesundheitlichen Folgen nicht zu reden.

Solche Worte würden die Aktienkurse internationaler Autohersteller zum Absturz bringen, wären sie aktuell. China gilt als weltgrößter Pkw-Zukunftsmarkt. Die Aussagen stammen aber nicht vom derzeitigen Premier Wen Jiabao, sondern von Vorgänger Zhu Rongji, der einst VW in Schanghai zum Durchstarten verhalf.

Kurz vor Ablauf seiner Amtszeit wünschte sich Zhu am 1. Februar 2003 vor der Behörde für öffentlichen Nahverkehr ein Ende der bisherigen Autopolitik. Er brach eine Lanze für mehr Mobilität. Das wurde voriges Wochenende bekannt, als Zhus Reden 1991 bis 2003 erschienen. In Schanghai, so sagte er 2003, sei mit einer Million Pkws der Dauerstau programmiert, ganz zu schweigen von Peking mit 1,9 Millionen Pkws.

Meist im Stau

Acht Jahre später sind in Schanghai fast doppelt so viele Autos unterwegs, in Peking mit fünf Millionen fast dreimal so viele - meist im Stau. Der Ausbau von U-Bahnen oder Bussystemen hat mit dem Tempo des Pkw-Booms nicht Schritt gehalten.

2010 entfielen mit 18 Mio. Pkws und Nutzfahrzeugen rund ein Drittel der weltweit 58 Mio. neu hergestellten Fahrzeuge auf China. Wenn VW-Vorstandschef Martin Winterkorn recht behält, wird der Gesamtmarkt 2018 um 50 Prozent auf gut 28 Mio. Einheiten steigen.

Weil der Bau von Ringautobahnen oder Überführungsstraßen keine Entlastung brachte, reagieren Chinas Metropolen mit Fahrverboten und Einschränkungen. Im 20-Millionen-Ballungszentrum Schanghai sind monatlich nur rund 8000 Pkw-Neuzulassungen erlaubt. Ein Nummernschild kostet 5000 Euro - so viel wie das dortige Pro-Kopf-Jahreseinkommen.

Auch Peking, wo Ende 2010 rund 4,8 Mio. Pkws zugelassen waren, steigt auf die Bremse. Pro Monat werden maximal 20.000 Zulassungslizenzen für Neuwagen verlost. Heuer dürfte der Autobestand deshalb um 240.000 Autos wachsen - statt wie im Vorjahr um 800.000. Das kostet die Stadt ein Prozent Wirtschaftswachstum. Peking hat zudem für jedes fünfte Auto nach der Endzahl seines Nummerschildes unter der Woche einen Tag Fahrverbot angeordnet.

Weitere verkehrsdämpfende Maßnahmen sind teure Parkgebühren, weil die Stadt nur halb so viele Parkplätze hat wie Pkws. Und jetzt plant Pekings Parlament nach dem Vorbild Londons, Stausteuern für die City einzuführen. In allen Millionenstädten Chinas drohen ähnliche Zustände. Die Autokauflust bleibt hoch. Zwar wird der Absatzmarkt 2011 mit erwarteten drei bis fünf Prozent Zuwachs deutlich langsamer steigen als 2010, mit dann 18,6 Mio. Fahrzeugen werden in China 2011 aber erneut die meisten Autos der Welt verkauft werden, sagt Ding Yang, Generalsekretär der Automobilhersteller.

Im Spagat zwischen dem Segen der Autokonjunktur und dem Fluch des Infarkts bleibt die Mobilität auf der Strecke. Experimente wie Carsharing, die auf Schanghais Expo gezeigt wurden, bleiben Gedankenspiele.

Peking lässt E-Cars einführen. Die Regierung will noch diesen Monat einen Förderungskatalog für umweltfreundliche Pkws erlassen. Bis Anfang September stritt sie aber noch darüber, ob sie auf E-Autos, Plug-in-Hybride oder Wasserstoffzellen setzen soll.

Das Öl wird knapp

Wie auch immer: Die Autoreform hilft nur gegen fossilen Ölverbrauch: Forscher des Pekinger Staatsrats rechneten aus, dass Autos beim derzeitigen Zuwachstempo der Motorisierung 2020 etwa 67 Prozent allen chinesischen Öls verbrauchen würden. 2010 verbrauchte China 430 Millionen Tonnen Öl, 240 Mio. Tonnen mussten eingeführt werden.

Da Chinas Strom zu 70 Prozent aus Kohle gewonnen wird, hilft die Umstellung auf E-Cars weder der Umwelt noch der Mobilität. Da würde nur die späte Einsicht eines Zhu Rongji etwas bewirken. Die ist derzeit aber nicht gefragt. (Johnny Erling aus Peking, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17./18.9.2011)