João Ubaldo Ribeiro wurde 1941 auf der Insel Itaparica im brasilianischen Bundesstaat Bahia geboren. Seit 1957 arbeitete er als Journalist, studierte Jus an der Universität Bahia sowie Politikwissenschaften in den USA. João Ubaldo Ribeiro hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter die auch ins Deutsche übersetzten Romane Viva o Povo Brasileiro (1984, auf deutsch Brasilien, Brasilien, 1988) und O Sorriso do Lagarto (1989, auf deutsch Das Lächeln der Eidechse, 1996), außerdem Anthologien mit Kurzgeschichten sowie Kinder- und Jugendbücher.

Während eines einjährigen Aufenthaltes in Deutschland/Berlin (DAAD-Stipendium) verfasste Ribeiro für die Frankfurter Rundschau sehr vergnügliche Kolumnen über das Leben in der nun nicht mehr geteilten Stadt, die in Um brasileiro em Berlim zusammengefasst sind. Hier finden sich seine Erfahrungen und Eindrücke von der Stadt nach dem Mauerfall - Beobachtungen und Gedanken eines Brasilianers in Berlin, Innenansichten eines Außenseiters. Es sind Glossen über die Deutschen und ihre kleinen Eigenheiten, den Autor selbst und seine Familie, oft auch über die Beziehungen zwischen den beiden Ländern und Völkern, die 1994 unter dem Titel "Ein Brasilianer in Berlin" auch auf deutsch erschienen sind, 2010 in einer zweiten, zweisprachigen Ausgabe.

2008 wurde João Ubaldo Ribeiro für sein Werk mit dem Prêmio Camões, dem bedeutendsten Literaturpreis der portugiesischsprachigen Welt, ausgezeichnet. Seit 1994 ist João Ubaldo Ribeiro Mitglied der Academia Brasileira de Letras. Er schreibt regelmäßig Kolumnen für zwei der wichtigsten brasilianischen Zeitungen, O Globo und O Estado de São Paulo.

 

Der Autor befindet sich auf Einladung des 9. Deutschen Lusitanistentages in Wien, in dessen Rahmen bis Samstag zahlreiche Veranstaltungen auf der Uni Wien stattfinden. Freitag abend liest er aus "Ein Brasilianer in Berlin" in der Hauptbücherei in Wien.

Freitag, 16.9.2011, 19:00
Hauptbücherei, Urban-Loritz-Platz 2a, 1070 Wien

Foto: Michael Vosatka

derStandard.at: Bei Ihrem Berlin-Aufenthalt bezeichneten Sie sich als Stotterer vom Kurfürstendamm. Haben Sie zwanzig Jahre später mittlerweile mit der deutschen Sprache Frieden geschlossen?

Ribeiro (lacht): Jetzt bin ich der Stotterer von Wien!

derStandard.at: Ihr Werk wird der Stilrichtung des "magischen Realismus" zugeordnet, was denken Sie über solche Kategorisierungen?

Ribeiro: Es gibt einen weiten Begriff, was Romane angeht. Gabriel Garcia Marquez hat etwas geschrieben, was man als "magischen Realismus" bezeichnen kann - für Europäer. Aber die Europäer hatten schon seit dem 16. Jahrhundert Romane, die man als fantastische Romane bezeichnen könnte. Zum Beispiel die Werke eines meiner Lieblingsautoren, François Rabelais, oder "Gullivers Reisen" von Jonathan Swift, das ja mit den Liliputanern und den Riesen eine Satire über die englische Gesellschaft darstellt, oder etwa "Dracula".

derStandard.at: Manche Autoren sehen Übereinstimmungen des "magischen Realismus" mit dem Fantasy-Genre.

Ribeiro: Eigentlich ist das gar nicht so sehr Fantasy, außer für Europäer und US-Amerikaner, die bekannt sind dafür, dass sie gar nichts lesen, was von außerhalb kommt. Für uns Brasilianer sind viele Dinge real und nicht dem magischen Realismus zuzuordnen, denn wir erleben den magischen Realismus selber.

Ich bin 1941 geboren und mit sechs Jahren nach Sergipe, den kleinsten Bundesstaat Brasiliens gezogen. Dort habe ich eine persönliche Erfahrung gemacht, die einer Schilderung von Gabriel Garcia Marquez in "Cien años de soledad" (Hundert Jahre Einsamkeit) entspricht, wo es darum geht, dass die Menschen in Macondo Eis kennen lernen.

In der kleinen Stadt in Sergipe gab es den ersten Kühlschrank bei uns zu Hause. Mein Vater hatte ihn gekauft und in der Zeit bevor er ankam, berichtete mir meine Mutter immer wieder stolz von dem magischen Apparat, der tausend wunderbare Dinge enthalten könnte. Dabei bekam sie beim Wort "Kühlschrank" immer einen Blick wie ein Feuerwerk. Meinen Vater fragte sie jedoch immer ängstlich: "Ribeiro, brauchen wir wirklich einen Kühlschrank? Das ist ja ein komplizierter technischer Apparat mit einem komplizierten Türgriff...!" Als der Kühlschrank da war, probierte ich den Türgriff aus und fand ihn ganz normal und nicht „fantastisch"

derStandard.at: Wie würden Sie den "magischen Realismus" definieren?

Ribeiro: Das sind Kategorien, die von Kulturen entwickelt wurden, die sich mit "minderwertigen" Kulturen nicht so befassen. Lateinamerika vereint so viele Aspekte. Lateinamerika - das ist eine sinnentleerte Kategorie. Wir haben hier am Tisch drei Brasilianerinnen, zwei die in Österreich leben und eine, die mit mir verheiratet ist und einen Repräsentanten der sogenannten "brasilianischen Intelligenz". Wenn ich jetzt jemand der Anwesenden frage, dreißig Sekunden über Ecuador zu sprechen, dann werde ich als Antworten "Quito", "liegt am Äquator", "es gibt viele Vulkane" und so weiter bekommen...
Aber Amerika ist eher ein soziopolitisches Konzept, dem eine gemeinsame Kultur zugeordnet wird, die es so nicht gibt.

Ich bin in Österreich schon einmal ausgezeichnet worden, und zwar bei einer Hommage in einem Schiort, dessen Namen ich nicht mehr weiß. Da gab es mir zu Ehren eine "südamerikanische Nacht". Ich wusste zunächst nicht, was ich mir darunter vorstellen sollte. Auf einer Bühne standen dann sechs Musiker mit peruanischen Ponchos und spielten auf Panflöten. Ich komme aus Bahia und habe nie zuvor solche Indiomusiker gesehen. Es könnte zwar sein, dass sich ein Baiano so verkleidet, um ein paar Münzen zu ergattern, aber ich kann von mir sagen, in so einem Poncho würde ich nach fünf Minuten dehydriert tot umfallen.

derStandard.at: Warum fällt der "magische Realismus" gerade in Lateinamerika auf so fruchtbaren Boden? Ist das eine Folge einer tieferen Verwurzelung in der Religion als in Europa?

Ribeiro: Religion hat in Brasilien viel mit Traditionen zu tun. Wie auf Cuba mit Santería gibt es in Brasilien einen starken afrikanischen Einfluss in Verbindung mit dem Katholizismus. Die afrobrasilianische Religion Candomblé geht vor allem auf Sklaven vom Volk der Yoruba zurück. Für die arme Bevölkerung boten Magie und Fetische die Lösung für Probleme des Alltags. Die Gottheiten des Candomblé, die Orixás, wurden dabei immer mit denen des Katholizismus gemischt oder getarnt. So entspricht zum Beispiel Ogun dem heiligen Antonius und Oxossi St.Georg.

derStandard.at: Was bewirkt die fortschreitende Integration Südamerikas durch den Mercosul für die Staaten und ihre Bewohner?

Ribeiro: Eine Blockbildung in Lateinamerika steht erst am Anfang. Der Mercosul ist als Kulturraum noch nicht weit gediehen. Lateinamerika wird als linguistischer Raum von portugiesisch und spanisch zusammengefasst, aber die Spanischsprachigen verstehen kein Portugiesisch, die Brasilianer verstehen dafür die Spanischsprecher und im Grenzgebiet sprechen alle Portunhol, das kann ich auch fließend (lacht).

Nehmen Sie Quebec in Kanada, dort sprechen die Menschen Französisch, als auch eine romanische Sprache, warum gehört also Quebec nicht zu Lateinamerika? Der Grund ist: alles was dunkelhäutig, spanisch, indigen ist, ist Lateinamerika.

derStandard.at: In Europa nimmt man in den letzten Jahren ein verstärktes neues Selbstbewusstsein Lateinamerikas wahr. Speziell Brasilien versucht sich offenbar in einer internationalen Machtpolitik, wie während des Putsches in Honduras gegen Präsident Zelaya im Jahr 2009...

Ribeiro: Wir haben in Brasilien zuletzt Glück gehabt, es wird in Infrastruktur investiert und Korruption bekämpft. Natürlich entspricht Brasilien regional dem Idealbild einer Großmacht mit einer hohen Bevölkerungszahl, viel Geld und einer aggressiven Außenpolitik erst durch den großen "Lider Lula" und jetzt durch "Liderina Dilma".

Bei Honduras geht das, aber bei dem Atomdeal mit dem Iran weiß man ja wie das aufgenommen wurde: von der UNO wurde das nicht einmal zur Kenntnis genommen. Aber bei Honduras, da haben wir die "Macht".

derStandard.at: Wie beurteilen Sie den Einfluss die Sozialprogramme unter Lula wie die "Bolsa Família" oder "Fome Zero"?

Ribeiro: Das Konzept der "Bolsa Família" stammt ursprünglich von Lulas Vorgänger Fernando Henrique Cardoso. Es ist meiner Ansicht nach ein demagogisches Projekt und bringt daher ein breites Wählerpotential. Es gibt leider viele Leute, die nicht wegen einer Arbeit diese Förderung verlieren möchten.

Gleichzeitig sind jedoch die Bereiche der Bildung, Gesundheit oder des Kanalnetzes immer noch unterentwickelt und haben den selben Status wie zuvor. Reden wir also besser nicht über Lula, sonst sitzen wir hier bis zum Abend...

derStandard.at: In Ihren Romanen spielen die Menschen Brasiliens eine zentrale Rolle. Wie ist ihre persönliche Sicht auf Ihre Landsleute?

Ribeiro: Man weiß in Europa wenig über Brasilien. Das Konzept "Volk" stammt aus Europa, in Brasilien ist das nicht so. Dort können die Leute Hans heißen oder Fujimoro oder Alhamdalla, sie sind alle Brasilianer. Der Titel meines Romans "Viva o Povo Brasileiro" hätte in der deutschen Übersetzung nicht funktioniert: "Es lebe das brasilianische Volk". Das Buch heißt deswegen "Brasilien, Brasilien". Ein deutscher Freund hat bei einem Besuch bei mir in Bahia einmal gemeint: "Hier sind ja alle Völker vertreten". Ich habe ihm geantwortet: "Nein, wir sind ein Mix!" (Michael Vosatka, derStandard.at, 16.9.2011)