In der Theorie sieht vieles anders aus, wird man davon persönlich betroffen, präsentiert sich vieles in einem anderen Licht. Ich durfte erstmals aus der unmittelbaren mütterlichen Betroffenheit heraus miterleben was es bedeutet, in Österreich einen sogenannten "Nachzipf", besser gesagt sogar zwei "Nachzipfe", zu haben. Aus diesem Grund ist es mir ein unbedingtes Bedürfnis ein paar Zeilen zum österreichischen Schulsystem zu schreiben und ein wenig mit meiner Schulzeit zu vergleichen, die ich in Finnland verbringen durfte.
36 Millionen Euro für den Nachhilfeunterricht
Wie kommt es, dass in einem derart wohlhabenden und gut gebildeten Land wie Österreich, sich niemand die Frage stellt, warum Eltern jährlich 36 Millionen Euro für den Nachhilfeunterricht ihrer Kinder zahlen? Wie gesagt, ich hatte das Glück meinen Schulweg im PISA-Land Finnland zu begehen: dort kannte ich damals keinen einzigen Menschen, der Nachhilfe hatte. Es gab nicht einmal ein Wort dafür. Es war dort ebenso wenig Thema, wie es hier scheinbar gar nicht aus den Köpfen der Leute wegzudenken ist! Also handelt es sich einfach um eine lange Tradition? Aber auch lange Traditionen müssen nicht unbedingt die besten Wege sein! Wieso kam nicht schon damals, wann auch immer das gewesen sein mag, als SchülerInnen Hilfe im größeren Ausmaß zu benötigen begannen, jemand auf die Idee, dass da etwas im System Schule wohl nicht stimmen kann? Wie konnten die Wege so auseinander driften, dass die Schulen in aller Ruhe auf ihren Pfaden voran schreiten, die Kinder aber in zunehmendem Maße gar nichts mehr mit den Lerninhalten anfangen können? Das Desinteresse scheint enorm zu sein, und die Schulen scheinen sich irgendwie nicht zuständig zu fühlen, die Interessen der Kinder zu wecken?
Lehrer als reine Wissensvermittler?
Der Klassenvorstand meines Kindes formulierte seine Einstellung in der ersten Klasse Gymnasium treffend (und niederschmetternd) so: "Wir sind Wissensvermittler, das ist unser Job." Wenn das so ist, dann ist das Bild vom Lehrersein hierzulande ein komplett anderes als in Skandinavien. Dort sehen die Schulen, und mit ihnen die LehrerInnen, es als ihre Aufgabe, den Kindern so zu helfen, dass jedes Kind so gut wie möglich sein kognitives Potential entdeckt und ausschöpfen kann.
Gemeinsam Schulprobleme angehen
Sobald es Probleme gibt, setzen sich die ExpertInnen der Schule (inklusive PsychologInnen, SozialarbeiterInnen, BeratungslehrerInnen, und natürlich Eltern) zusammen und erarbeiten einen Plan angepasst an genau das Kind. Und wenn dieser Plan nicht funktioniert, dann war der Plan nicht gut genug, und ein neuer wird entwickelt. Der Ehrgeiz der Schulen und der LehrerInnen ist es, möglichst alle Kinder lerntechnisch und menschlich gut voran zu bringen!
Lehrerjob ist in Finnland positiv
Menschen werden dort LehrerInnen, weil es ein angesehener Job ist, dessen Wichtigkeit allen klar ist, weil die Arbeit vielseitig und verantwortungsvoll, und voller Herausforderungen ist; weil jedes Kind einzigartig ist, und es wie eine Genugtuung und Befriedigung für die LehrerInnen ist, dem Kind gerecht zu werden, beim Kind anzudocken, zu merken, dass man nun dem Kind helfen konnte. Mir kommt schon vor, dass Lehrersein in Österreich eine andere Stellung hat und die Motivation der werdenden LehrerInnen hier eine andere ist als die, dem Kind als ganzem Menschen zu begegnen und es so gut wie möglich begleiten und fördern zu dürfen.
Ein Fünfer, jetzt hat die Schule nichts mehr damit zu tun...
Nun gut. Mein Kind hier in Österreich hat also kein Interesse mehr an der Schule, die Nachhilfe kann beginnen. Koste es was man sich halt leisten kann. Zum Sommer stellt sich heraus: Es hat wohl nicht gereicht (Zu wenig Nachhilfe? Hätte man es sich doch noch mehr kosten lassen müssen? Einen anderen Nachhilfelehrer suchen? Was für eine schräge Reaktion an sich! Als ob die Schule nichts damit zu tun hätte!). Das Kind muss zur Entscheidungsprüfung. Für mein Kind war es auf jeden Fall eine schreckliche Erfahrung auf diese Weise einen Nachzipf zu bekommen.
Sommerferien sind Büffelferien
Der Sommer kommt, die Lerninstitute, die privaten Helfer, die müden Eltern und die völlig schulmüden und geknickten Kinder raffen sich auf, legen ihr Geld und ihre wenige Motivation zusammen, und beginnen zu zahlen, zu büffeln. Keine Urlaubsstimmung kann aufkommen, Bücher und Hefte werden überall hin mitgeschleppt. Den Sommer kann man vergessen, kann die ganze Familie vergessen.
Die "Hinrichtung" kommt am Sommerende
Der Tag für den ersten Nachzipf ist da. Dieser Tag ist traditionsgemäß (?) der Freitag vor Schulbeginn. Die Schule ist gespenstisch leer und still. Man sieht schweigende, nägelkauende Kinder nervös hin und her wandernd. Ernste Gesichter, bei Kindern wie Lehrern wie Begleitpersonen. Es überkommt einem wirklich das Gefühl bei einer Hinrichtung anwesend zu sein. Die Knie zittern: Was tue ich, wenn mein Kind diese Prüfung nun nicht schafft? Wie kann ich es motivieren, die zweite Prüfung nach dem Wochenende "locker" anzugehen? Wenn das Kind weiß, "nun geht es um alle"s... Wenn das bisschen Selbstbewusstsein, das noch da war, auch weg ist? Schreckliche Minuten, ewig lange. Aber es geht gut diesmal, hurra! Die Freude ist riesig, ich denke zurück an meine Diplomprüfung am Ende des Studiums, verspüre eine sehr ähnliche Stimmung jetzt!
Zumutbarer Leistungsdruck für Kinder?
Diese Kinder sind doch Kinder, und eben nicht Erwachsene. Es ist falsch, Kindern so einen großen Leistungsdruck und Stress zuzumuten! Nun bekommt mein Kind zum Glück einen Schub Selbstbewusstsein, und ich fange vorsichtig an zu denken, dass es vielleicht doch noch klappen könnte mit der zweiten Prüfung... Das Wochenende wird abermals mit Lernen und teurem Lernen verbracht, denn auch das Kind denkt inzwischen, dass zum Lernen eine bezahlte Person oder ein Institut dazugehört!?
Kein "humaner" Schulbeginn
Dann kommt der Montag: Schulbeginn ist für alle Kinder um 8 Uhr. Und um 9 Uhr gehen die Prüfungskinder zu ihren schriftlichen Prüfungen. Wie bitte? Wer hat sich diesen teuflische Plan ausgedacht? Alle Kinder treffen einander wieder nach dem Sommer, man tauscht sich aus, hat Spaß, und dann sollen die Prüflinge gehen, und wenn sie Pech haben, werden sie nie wieder in diese soeben wieder getroffene Klasse zurück gehen, denn sie haben die Prüfung nicht bestanden und müssen in eine andere Klasse gehen? Ich wollte meinem Kind verbieten um 8 Uhr in die Schule zu gehen sondern erst zur Prüfung zu erscheinen, aber es wollte selbst frühzeitig dort sein, und ich musste es ziehen lassen. Das ist eine demütigende, quälende Situation, das Prüfungskind dieses Ungewisse, diesen enormen Druck direkt vor der Nase aller anderen Kindern ertragen zu lassen. Den Prüfungstag so zu gestalten ist für nichts gut! Wieso, das ist mir unbegreiflich, wie so vieles im Schulsystem. Meinem Kind wurde dann auch kein vorläufiger Stundenplan mit der Begründung ausgeteilt, es könne ja sein, dass es dann doch in eine andere Klasse kommen werde... Auch diese Situation könnte mit Leichtigkeit so geändert werden, dass die vielen Nachprüfungskinder ihre Prüfungen absolvieren bevor das neue Schuljahr beginnt, das wäre doch die einzig logische und humane Art es zu machen, wenn es denn nicht ohne Prüfungen geht.
Eltern, denkt um!
Ich würde mich freuen wenn ein Prozess des Nachdenkens und Umdenkens und auch des Protestierens vor allem bei den Eltern beginnen würde, denn bei den LehrerInnen geschweige denn bei den PolitikerInnen scheint es noch lange zu dauern. Das österreichische Modell sieht aus meiner Sicht so aus: Ewiges Parteien- und Gewerkschaften-Hin-und-Her, keine Veränderung ist vorstellbar, sofort wird das Negative herbei "gepredigt", es fehlt völlig der Mut zur und die Lust auf Erneuerung, auf Ausprobieren. Frustration, Unzufriedenheit und Resignation sind die Folge, bei allen Beteiligten.
Politisch eingefärbtes Schulsystem
Ich stelle fest, dass zumindest in Finnland Änderungen sehr rasch beschlossen werden, ausprobiert werden, und bei Bedarf nachträglich noch verändert und verbessert werden. Ich kann nicht verstehen warum das in Österreich nicht möglich ist? Warum können politische Parteien nicht mehr an einem Strick ziehen? Muss es immer nur darum gehen, sich von der anderen Partei abzugrenzen? Kann man nicht statt dessen beim Inhalt ansetzen und für eine gute Idee gemeinsam wirken? Es ist auf jeden Fall ein Unterschied zu den nordischen Ländern, dass in Österreich immer so viel Wert auf die politische Farbe gelegt wird. Das ist mühsam und irgendwie auch uninteressant. Ich zahle Steuern, ich will Innovation, gute Ideen, vor allem gute Bildung für unsere Zukunft, für die Kinder, und mir ist es eigentlich völlig egal welche Farbe dahinter steht. Mehr noch, ich würde es toll finden, würden die Parteien sich mehr auf die Sache konzentrieren und weniger auf das Profilieren ihrer Selbst. (Leser-Kommentar, Maria Hajo, derStandard.at, 19.9.2011)