Foto: Standard/Michael Freund

Ein Clearinghouse für die Analyse eines ganzen Kontinents steht am Rande des Harvard-Campus: das Minda de Gunzburg Center for European Studies. 1969 von Stanley Hoffman und Guido Goldman gegründet, ist das CES Heimat vorwiegend für Sozialwissenschaftler, die die Veränderungen der Alten Welt und ihre Beziehungen zu Amerika untersuchen. Sein Direktor ist der aus Kanada stammende Peter A. Hall, Politologe auf Harvard mit langjährigen Aufenthalten in Europa, insbesondere England; Schwerpunkt seiner Forschung: europäische Politökonomie.

Freund: Professor Hall, wird die wachsende Kluft zwischen den transatlantischen Partnern ein immer größeres Thema an Ihrem Center?
Hall: Kein derartiges Center könnte dieses Problem ignorieren. Wir beschäftigen uns in immer mehr Workshops und Seminaren damit und schauen auch darauf, dass europäische Stimmen hier gehört werden – Leute wie (der deutsche Botschafter in den USA) Wolfgang Ischinger zum Beispiel. Oder Philippe Manent von der Pariser Ecole des Hautes Etudes, der über die Unterscheidung zwischen Gut und Böse als fragwürdiges Kriterium für Außenpolitik sprach.

Freund: Woher kommen die unterschiedlichen Auffassungen wirklich? Sind sie vorübergehend, aus 9/11 resultierend, oder reichen sehr weit zurück? Und sind sie ein wachsender Trend?
Hall: Persönlich meine ich dazu, dass die Beziehungen nie wirklich ganz friedlich waren. Erinnern wir uns etwa an Jimmy Carter, der 2002 den Friedensnobelpreis gewann: Er wollte seinerzeit in Europa Neutronenbomben stationieren, was bekanntlich gröbere Kontroversen hervorrief. Das Ende des Kalten Krieges erforderte einiges Nachdenken über die neuen Rollen der Beteiligten. Ich glaube, es war Dean Acheson. der Anfang der Sechziger sagte, Großbritannien habe ein Reich verloren und suche nach einer neuen Rolle: 1989 haben die USA das Reich des Bösen – ihren Gegenspieler Sowjetunion – verloren und suche nun ebenfalls. Die Suche ist schwierig. Das liegt vielen heutigen Spannungen zugrunde.

Noch vor wenigen Jahren, in der Clinton-Ära, schien es möglich, dass die US-Außenpolitik sich unter dem Aspekt der Menschenrechte neu orientieren würde. Das war damals mehr als nur ein leerer Traum. Die gegenwärtige Regierung hat andere Blickwinkel. Wir sehen hier sozusagen experimentelle Beispiele dieser Suche nach einer neuen Rolle.

Freund: Was meinen Sie mit experimentell?
Hall: Nehmen wir die andere Seite der Medaille: Es gibt Umstände in der geopolitischen Situation Amerikas, die sich auf die transatlantischen Beziehungen auswirken, egal welche Regierung das Sagen hat. Die USA sind in einer sehr sicheren Lage, seit mehr als drei Generationen hat es keinen Krieg auf amerikanischem Boden gegeben. Daher können sich manche Amerikaner einen Krieg als etwas potenziell Glorreiches vorstellen. Europäer sehen das ganz anders, als eine nationale Katastrophe. Da ist für Experimente wenig Platz.

Freund: Wie wird nach Ihrem Eindruck die europäische Kritik an Amerika hier in den Staaten zur Kenntnis genommen – wenn überhaupt?
Hall: Man muss damit beginnen, dass in den USA selbst die Außenpolitik des Landes äußerst unterschiedlich wahrgenommen wird. Persönlich bin ich dankbar für die Einwürfe Europas, die zur Vorsicht mahnen, unter anderem, weil es der Demokratischen Partei hier offenbar schwer fällt, ihre Kritik vorzubringen und publik zu machen.

Vielleicht sollten wir zunächst fragen, warum die Bush-Regierung so entschlossen ist, ihre Politik mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Aus drei Gründen, will mir scheinen: aus innenpolitischen Gründen, um von der wirtschaftlichen Situation abzulenken. Zweitens, weil Länder wie Irak wirklich den Frieden im Nahen Osten bedrohen. Drittens muss man bedenken, dass zur Zeit Berater Werk sind, die die Ansicht vertreten, dass Reagans Politik den Kollaps der Sowjetunion erreichte – und viele von ihnen glauben, das gerade diese inflexible und aggressive Haltung den Sieg bedeutete. Das soll eben auch heute gelten.

In Washington wird häufig die Ansicht vertreten, dass Europa viel zu multilateral denkt und zu zögerlich ist, wenn es um militärische Gewalt und um ein größeres Verteidigungsbudget geht. Ein amerikanischer Konservativer sagte einmal auf die Frage, wie er diese europäischen Budgets einschätze: Europa kommt mir vor wie Kanada mit Schlössern.

Freund: Sie sind ja Kanadier: Wie kam Ihnen das vor?
Hall: Ich denke, die Beobachtung, dass Europa weniger für seine Verteidigung tut, stimmt. Die Frage bleibt: Wie schätzt man das ein? Ich denke, dass der Multilateralismus mehr wert ist, als die Bush-Regierung zu glauben scheint, und dass umgekehrt militärische Macht einen begrenzteren Nutzen hat, als sie annimmt.

Freund: Nochmals zurück zur Frage, wie bewusst der amerikanischen Öffentlichkeit die Bandbreite der Anti-USA-Kritik ist.
Hall: Kürzlich wurden vom Chicago Council on Foreign Relations die öffentlichen Meinungen auf beiden Seiten des Atlantiks untersucht. Der „informierten amerikanischen Öffentlichkeit“ sind demzufolge die Nuancen der europäischen Kritik sehr wohl bekannt. Der Rest, the broad mass of the electorate, denkt selten auch nur über Europa nach. Die europäischen Ansichten über die großen Themen dürften ihnen unbekannt sein. Was sie wissen, ist, dass Großbritannien uns unterstützt. Man muss aber dazu sagen, dass sich die öffentliche Meinung zu außenpolitischen Themen immer wieder ändert, je nach den konkreten Umständen und je nach der Regierung, die gerade im Amt ist.

Aber ich meine, dass es nach wie vor eine Quelle der Sympathien für Europa gibt, die überleben wird. Und meine Studenten heute sind viel mehr am Rest der Welt interessiert als die vor 20 Jahren. Viele sind für lange Perioden im Ausland, sie sind an Umweltbewegungen interessiert, am Problem der Globalisierung. „Europa“ ist zwar weniger hoch oben auf ihrer Prioritätenliste, da stehen eher Asien, Lateinamerika, Russland und Afrika – aber die internationale Ausrichtung ist jedenfalls ein vielversprechendes Zeichen.

Freund: Sehen Sie größere kulturelle Inkompatibilitäten zwischen „den Staaten“ und „Europa“? (die beide zugegebenermaßen nicht als Einheiten existieren, aber betrachten wir mal einen verkürzten Mainstream)
Hall: Ich finde, dass die kulturellen Ansichten und Gewohnheiten – unabhängig von den politischen Querelen – immer ähnlicher werden. Die wichtigste Dimension der Globalisierung ist wohl die kulturelle. Das erzeugt auch Spannungen – zum Beispiel zwischen Frankreich und den USA, weil die lingua franca eben nicht mehr Französisch ist, sondern Englisch. (Das bedeutet, nebenbei gesagt, dass die Amerikaner noch weniger den Drang verspüren, eine andere Sprache zu lernen.) Doch in anderen Hinsichten wird – gerade unter den Jungen – die nationale Kultur zur internationalen. Das läuft sehr kommerziell, und wir können es aus mehreren Gründen verurteilen. Aber es bedeutet auch, dass die Lebensweisen von sozusagen gewöhnlichen Leuten einander mehr ähneln als früher. Und das läuft sehr wohl in beide Richtungen: Ich trinke Cappuccino, esse Pasta, würze mit italienischen Saucen. Es ist schwierig geworden, normale amerikanische Küche zu finden, auch in „gewöhnlichen“ Haushalten.

Freund: Auch im Mittelwesten?
Hall: Aber ja! Es gibt also einen umgekehrten kulturellen Fluss, umgekehrt zu dem, der angeprangert wird.

Freund: Wenn Sie reisen: Was fehlt Ihnen, was mögen Sie besonders da wie dort?
Hall: Ich mag an Europa, dass Leute aus allen Schichten nebeneinander wohnen, in Stadtzentren, was es bei uns kaum gibt. Ich finde die Angewohnheit der Südeuropäer schön, miteinander, in großen Gruppen, im Freien zu essen – wobei dazu zu sagen wäre, dass es heute auch viel mehr Straßencafés in den USA, etwa hier in Boston, gibt als früher. Was noch? Die Amerikaner arbeiten mehr, die Europäer legen mehr Wert auf Freizeit. Und die europäischen Nationen legen viel mehr Wert auf das öffentliche Wohl, die öffentlichen Verkehrssysteme, die großen Museen, die vielen kulturellen Veranstaltungen der Stadtgemeinden.

Andererseits: Wenn ich wieder in den Staaten bin (lange Pause) – hier schätze ich das akademische Leben viel mehr. Es herrscht hier eine Offenheit und eine Meritokratie, die Europa noch nicht durchdrungen hat. Die Unis in Europa sind die letzten, die sich noch von einer Status- zu einer Kontraktgesellschaft wandeln müssen.

Freund: Gilt das für alle?
Hall: Nein, in unterschiedlichem Ausmaß. England ist meritokratischer geworden. Das deutsche Uni-System hingegen, das einst als Modell für Amerikas Graduate Schools diente, ist heute besonders ... rückwärtsgewandt.

Freund: Zurück zu einer allgemeineren Frage: Die meisten Beobachter nehmen an, dass die Einigung Europas sozusagen linear weitergehen wird. Aber nicht alle, Tony Judt zum Beispiel meint, es könne durchaus zu einem Schlingern kommen, das Resultat sei nicht garantiert. Wie sehen Sie das?
Hall: Ich bin absolut auch dieser Ansicht. Es ist keine Einbahn. Es ist eine riesige sozioökonomische Herausforderung, für die es viele politische Lösungen geben kann. Es kann durchaus sein, dass die politisch integrierte Einheit Europa in einen Gemeinsamen Markt zurücktransformiert wird – ohne effektive politische Einheit.(DER STANDARD, Printausgabe, 31.5/1.6.2003)