
Wer kann, der geht nicht auf die Straße sondern ins Ausland.
In Algerien kommen die Proteste gegen das verknöcherte Regime, das nach wie vor von der ehemaligen Einheitspartei und antikolonialen Befreiungsbewegung FLN kontrolliert wird, nicht in die Gänge. Die Demonstrationen im Frühjahr gegen die Hogra - die Missachtung der Bevölkerung durch die Mächtigen - scheiterten an der massiven Polizeipräsenz. Mittlerweile wurde zwar der Ausnahmezustand aufgehoben. Doch in der Hauptstadt Algier hat sich nur wenig geändert. Dort sind Demonstrationen nach wie vor verboten.
Dennoch ist die Regierung unter Präsident Abdelaziz Bouteflika nervös. Dies zeigte sich am Wochenende. Auf Facebook wurde zu Protesten für den 17. September gerufen. 5.000 Polizisten waren in Algier im Einsatz. Der Aufmarsch der Unzufriedenen blieb aus. Die Regierung und die ihr nahestehende Presse hatte davor tagelang gewarnt. Hinter dem Aufruf stecke der französische Philosoph Bernard Henry Lévy, der die Revolution in Libyen aktiv unterstützt hat, und "das zionistische Gebilde" - also Israel. Als Beweis diente der 17. September. An jenem Tag 1978 wurde das Abkommen zwischen Ägypten und Israel in Camp David unterzeichnet und 1982 fand das Massaker in Sabra und Chatila statt.
Doch es sind nicht diese absurden Verlautbarungen, die Algeriens Jugend davon abhalten auf die Straße zu gehen. Es ist vielmehr die Angst. Nicht etwa die vor dem Polizeiaufgebot, sondern die Angst vor dem, was die eigenen Vergangenheit gelehrt hat.
"Lass mich mit dem arabischen Frühling in Ruhe", erklärte mir vor Kurzem eine Freundin - Ende 20 - am Telefon. "Wir haben unseren Frühling gehabt und Du weißt doch nur zu gut, wohin das geführt hat", fügte sie hinzu. Sie bezog sich auf die Jugendrevolte 1988, die vorübergehende Öffnung und den anschließenden Bürgerkrieg zwischen Islamisten und Armee, der in den 1990ern zwischen 150.000 und 200.000 Menschen das Leben gekostet hat.
"Wer tötet wen?" lautete damals die Frage. Die Antwort: Alle töteten. Islamisten massakrierten abtrünnige Dorfbewohner. Armee und Geheimdienste taten es ihnen nach. Algerien ist ein Land, in dem seit dem blutigen Befreiungskrieg gegen Frankreich jeder Versuch der Veränderung unweigerlich im Blutbad endet. Das ist der Grund, warum der arabische Frühling - obwohl es genug Gründe für Massenproteste gäbe - bisher nicht auf das Reich der FLN übergegriffen hat. (Reiner Wandler, derStandard.at, 19.9.2011)