Frau Winitzky öffnet die Tür in einem mit bunten Farbklecksen übersäten Malerkittel. In einem Raum in der Alserbachstraße im neunten Wiener Gemeindebezirk hat sie bereits viele Utensilien für ihren Kurs "Kreatives Gestalten" vorbereitet. Die Wände schmücken Werke aus vergangenen Kurseinheiten, über deren Entstehungsgeschichte die rüstige 63-Jährige enthusiastisch erzählt. Hergestellt wurden die Bilder nämlich von Menschen, die das Ergebnis ihres Schaffens gar nicht oder nur schwer sehen können: von Blinden und Sehschwachen. Und auch Frau Winitzky muss sich ganz, ganz dicht über die Malereien beugen, um deren Motive zu erkennen. Die Kursleiterin ist wie viele ihrer SchülerInnen praktisch blind.
Kreatives Gestalten bis Nordic Walking
Waltraud Winitzky ist eine von vielen Sehbehinderten, die sich in der Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen (HG) ehrenamtlich engagieren. Seit über 75 Jahren bietet die HG sehbehinderten Menschen Sozialberatung, aber auch kulturelle Aktivitäten und Freizeitgestaltung an. Dabei kommen 90 Ehrenamtliche auf 120 fixe MitarbeiterInnen.
Die Schauspielgruppe der HG wird zum Beispiel von Sehbehinderten geleitet, ebenso der Dartsverein, die Nordic-Walking-Gruppe und das Kegeln, zudem man sich neuerdings auch gemeinsam trifft. Der völlig erblindete Peter Krätschmer wiederum engagiert sich in einem Verkehrsgremium, um die Interessen von Blinden und Sehschwachen zu vertreten.
Ehrenamtliche blühen auf
Helga Bachleitner, die die Public Affairs bei der HG leitet, findet es sehr wichtig, dass sich auch Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen ehrenamtlich engagieren. Das sei "gesund und sinnvoll, weil sich die betreuten Menschen besser angenommen fühlen, wenn Angebote auch von Sehbehinderten gestaltet werden." Ihrer Meinung nach hätten die Kurse sonst den komischen Charakter von "wir tun dir jetzt etwas Gutes".
Aber auch für jene Blinden und Sehschwachen, die freiwillig bei der HG mitarbeiten, hat die Arbeit eine Art therapeutische Wirkung: "Viele sind geknickt, wenn sie die Diagnose bekommen oder die Sehverschlechterung gerade erst eingetreten ist", erklärt Bachleitner und fügt hinzu: "Ein großes Problem ist, dass einem die eigene Familie oft fast nichts mehr zutraut. Wenn diese Menschen jedoch merken, dass sie von anderen etwas lernen oder selbst Aufgaben übernehmen können, blühen sie geradezu auf."
Andere motivieren und etwas bewegen
Waltraud Winitzky bestätigt diese Beobachtung. Schon seit früher Kindheit hat sie gerne gemalt, daher war es besonders schlimm, als sie vor acht Jahren ihr Augenlicht verlor. Ihr Bedürfnis nach Farben und Bildern habe sich danach aber überhaupt nicht geändert. In ihrem Kurs, den sie einmal im Monat anbietet, motiviert sie andere Betroffene zum Kunstschaffen -und das setzt bei ihr selbst ebenfalls wieder Kräfte und Ressourcen frei.
Auch Verkehrsexperte Peter Krätschmer wollte sich anfangs nicht mit seiner Sehbehinderung abfinden, wollte nicht "da" dazugehören. Als sich sein Zustand jedoch weiter verschlechterte, absolvierte er einen Mobilitätskurs und wagte sich endlich hinaus. Jetzt möchte er im wahrsten Sinnen des Wortes etwas bewegen: Er spricht geradezu euphorisch von einigen Errungenschaften und ärgert sich über Stillstände bei anderen Verkehrsprojekten. Seine Tätigkeit im Verkehrsgremium habe ihm wieder einen Sinn gegeben: "Ich lerne so viele Menschen kennen, auch sehr nette, und das gibt mir einen irrsinnigen Auftrieb."
Freizeitplattform
Ein ganz anderes Problem hatte Christine Wieland nach ihrer Erblindung. Recht bald wurde ihr die ungewollte Freizeit zu viel, sie wollte nicht mehr zuhause "eingesperrt" sein. Also suchte sie sich eine persönliche Assistentin, die mit ihr Inlineskaten ging. Wieland wusste aber auch, dass nicht jeder sehbehinderte Mensch eine Assistenz zur Seite gestellt bekommt. Weil sie auch mit andern ihre Freude an der Bewegung teilen und soziale Kontakte knüpfen will, stampfte sie gemeinsam mit der HG die sogenannte Freizeitplattform aus dem Boden.
Diese Plattform ist ein Netzwerk von sehbehinderten, blinden und sehenden Menschen, die sich einmal pro Monat zu verschiedenen Aktivitäten treffen. Das letzte Mal waren sie Raften – davor einmal Klettern oder Tandemfahren. Doch es steht nicht nur Sportliches am Programm. In einem Workshop entstand beispielsweise ein Trickfilm mit dem verheißungsvollen Titel "Über Stock und Aug".
Zündmechanismus
"Wenn man als Sehbehinderter ehrenamtlich arbeitet, funktioniert das nur fernab von Mitleid", ist Wieland überzeugt. Sie will durch ihr Engagement eine eigene Spur ziehen, ihre Selbstbestimmtheit betonen und bloß nicht von Sehenden bevormundet werden. Etwas drastisch formuliert sie das Gefühl, das viele Sehende ihr durch übertriebene Hilfsbereitschaft vermitteln: "Du bist blind, du kannst nichts mehr, du bist quasi tot. Dabei habe ich nur blinde Augen, der Rest von mir ist ganz normal."
Und diese Normalität will sie über ihre Freizeitplattform vermitteln. Denn Wieland glaubt, dass ihre Tätigkeit ein Zündmechanismus sein kann, damit Menschen ihre Angst überwinden. "Ich will noch etwas bewegen, auch in der Öffentlichkeit, damit die Leute hinschauen", so die überzeugte Freiwilligenhelferin. Gegen Bezahlung hätte Wieland freilich nichts einzuwenden, aber solche Angebote ließen sich im Moment eben nur durch Ehrenämter finanzieren.
Ein Stückchen Freiheit
Waltraud Winitzky verlangt für ihren Kurs "Kreatives Gestalten" einen Unkostenbeitrag von zwei Euro, manchmal auch gar nichts. Aber darum ginge es nicht. Sie sieht, welche Freude ihre "Schüler" mit der Malerei haben und motiviert sie durch Lob und Mut machen: "Man kann ja nichts falsch machen. Die Kritikfähigkeit des Sehenden ist vielleicht sogar ein Hindernis. Mit der Sehbehinderung kann unter Umständen sogar ein Stückerl Freiheit kommen." (Sandra Eigner, derStandard.at, 20.9.2011)