
Das Haydn-Orchester spielt Rossinis "Otello" mit Dirigent Gustav Kuhn bei den von ihm gegründeten Festspielen in Toblach: ein gelungener Anschlag auf das Gehör.
Gründervater Gustav Kuhn macht's möglich.
Toblach (Dobbiaco) - Ist Toblach schön? Da gibt es die aparte barocke Pfarrkirche aus der Zeit, als Toblach noch sehr klein und ganz agrarisch war und nur dann und wann etwas warenhandelndes Volk vorbeikutschierte (1774). Dann gibt es das prachtvolle Ensemble des Grand Hotels, welches ein gutes Jahrhundert später im Zuge der Errichtung der Südbahn gleich miterrichtet wurde und den ersten größeren Tourismusschub beherbergte. Und dann gibt es, von der Barockkirche zum Grand Hotel hinunter, eine schnurgerade Meile, an der von der Hefe des Massentourismus aufgeblähte, bunt bemalte, balkonwärts üppig dekolletierte Pseudofolklorehotelklone Spalier stehen und um Kundschaft buhlen.
Auch Gustav Mahler kam einst nach Toblach, und zwar des bewegendsten, einfallsreichsten, kühnsten Baumeisters wegen: wegen der Natur. In Altschluderbach ließ er sich - nach schweren Schicksalsschlägen "vis-à-vis de rien" - ein Komponierhäuschen hinstellen; in ihm entstanden Das Lied von der Erde und die Neunte Symphonie.
Gegenwärtig findet sich die Tonsetzerwerkstatt in einem Tierpark wieder, gleich rechts nach den Wildschweinen und straußenartigem Großgeflügel. Ob wohl das ostinate Blöken der Schafe (fortissimo) und das scharfe Rauschen der Pustertal-Bundesstraße (mezzoforte) Niederschlag in Mahlers Werken finden würden? Wohl kaum. Mahler wäre längst wieder weg.
Weil Gustav Mahler aber drei Sommer in Toblach war und es in Südtirol aktiv-gestaltende politische (Luis Durnwalder) und künstlerische (Gustav Kuhn) Köpfe gibt, gibt es im neurenovierten Grand Hotel Toblach, welches neben einer netten Jugendherberge auch einem schnieken Kulturzentrum Platz bietet, seit einem Jahr die Festspiele Südtirol. Die zwei in Altschluderbach komponierten Mahler-Werke stellen immer Anfang und Ende des zehntägigen Kulturevents dar, dazwischen werden schwerpunktmäßig Belcanto und "Kontraste" gepflegt.
Kontraste und ein Attentat
Im Eröffnungskonzert wird stets ein Auftragswerk dem Lied von der Erde gegenübergestellt, und diesen Kontrast erzeugte diesmal Michael Löschs interactions für Bariton-Saxofon, Klavier und Orchester. Seicht wie der Toblacher See, nur leider nicht von dessen inhaltlicher Klarheit und Frische, walzte Lösch ein paar Minimotive mittels Sequenzierung auf jeweils ein paar Minuten Länge aus, gern improvisierend garniert. Das Ganze wirkte wie eine mühsam orchestrierte mittelmäßige Jazznummer - was es ja war.
Nach einem Attentat auf die innere Befindlichkeit am nächsten Abend eines auf die äußere: Dank eines platt fortissimo singenden Chores (Chorinstitut Toblach) und eines - für den etwa 500 Sitzplätze fassenden Gustav-Mahler- Saal - um Welten zu lautstärkenintensiv singenden Solistenensembles wurde Rossinis Otello zu einem (gelungenen) Anschlag auf das Gehör des Publikums.
Schade, denn der Rossini gelang dem Wahlitaliener Kuhn mit selbstverständlicher Lebendigkeit, Eleganz und Vielfarbigkeit - überzeugender als der zupackende Mahler vom Vorabend. Das von Kuhn seit 2003 geleitete Haydn-Orchester von Bozen und Trient agierte flexibel und leidenschaftlich, und auch unter den Solisten waren mit Arpiné Rahdjian (Otello), Anna Princeva (Desdemona) und Cosimo Panozzo (Jago) wundervolle Stimmen zu hören. Und den Rodrigo sang mit Gian Luca Pasolini ein Tenor, wie man ihn in Wien lange nicht gehört hat: von einer beglückenden Geschmeidigkeit und klugen Variabilität in der dynamischen Gestaltung, durchschlagskräftig und höhensicher.
Toblach und Erl
Es gibt also noch einiges zum Feinjustieren in Toblach - kein Wunder bei einem so jungen Festival. Einige Künstler, die diesen Sommer bei den Tiroler Festspielen in Erl, einem anderen Kuhn-Festival, zu hören waren (Davide Cabassi, Franui, Sänger der Kuhn'schen Accademia di Montegral), sind auch aktuell in Toblach zu erleben - ein unverwechselbares Profil ergibt sich dadurch noch nicht. Oder soll Toblach mit Erl langfristig verbunden werden? (Stefan Ender, DER STANDARD/Printausgabe 20. September 2011)