Wien - Er meinte es ironisch. Natürlich auch ein bisschen kokett. "Eine Weltlage muss wirklich höchst dramatisch sein, wenn die Philosophen gefragt werden", sagte Konrad Paul Liessmann beim Montagsgespräch des STANDARD. Das Publikum lachte, und doch scheint es so, als würde vielen im Land das Lachen schon lang im Halse stecken bleiben.
Multicolore Korruptionsvorwürfe, mutmaßlicher Staatsbürgerschaftwucher, Cash-for-Law-Auftritte eines lobbyierenden Ex-Innenministers und aus den Schienen geratene Werbefahrten des vormaligen Verkehrsministers galt es also zu verhandeln.
Ja, was ist denn da los?
Auf Kollisionskurs
Moderator und STANDARD-Kolumnist Gerfried Sperl äußerte gleich zu Beginn den Verdacht: "Die Politik scheint mit der Ethik auf Kollisionskurs gegangen."
Die Beziehungskiste zwischen Politik und Ethik sei aber immer schon ziemlich problematisch gewesen, sagte Philosophie-Professor Liessmann von der Uni Wien. Wo Macht ist, ist Machtmissbrauch nicht weit. Nie. Ist so. War immer so. Wird immer so sein. Sei oft sogar "fast identisch". Davor wäre vermutlich nicht mal der "wahrheitsliebendste Philosoph" gefeit, der Verlockung der Macht zu verfallen. Seit es Demokratie gibt, gibt es das Problem der "Korruptionsanfälligkeit der Politiker".
Was also tun? Da es ziemlich berechtigte Zweifel am umfassenden, selbstlosen Guten im Menschen, zumal wenn er Politiker ist, gibt, muss eine demokratische Gesellschaft quasi zur Selbstüberlistung schreiten und versuchen, das politische System und die Institutionen in ein Sicherheitskorsett zu packen, das den potenziellen Schaden eines Einzelnen - und sei es ein Verbrecher, wie Philosophin Anne Siegetsleitner von der Uni Salzburg unter Verweis auf Sir Karl Popper sagte - in überschaubarem Rahmen hält.
Dieser Rahmen muss stark sein, sagte Siegetsleitner, er hat sich aber als (zu) schwach erwiesen. Dass die Dinge so sind, wie sie sind, ist natürlich auch ein Stück weit selbstgemacht. Weil der Staat, die "res publica", die öffentliche Sache nun mal eine gemeinsame Sache aller sei. "Wir haben das System mitgestaltet, dass so viel angestellt werden kann, wenn man dann mal rankommt an die Macht", sagte Siegetsleitner - und nahm ihre Zunft bewusst nicht aus. Sie sehe da auch ihre Verantwortung als Philosophin, dass sie als "philosophisch gebildete Bürgerin dieses Staates" an dieser gemeinsamen Sache teilnehme.
Geschichtsvergessenes Entsetzen nur über die aktuellen Vorgänge sei aber unangebracht. Früher war alles besser? I wo! Oder war sie wirklich so toll, "die Aufteilung des Landes auf zwei Parteien"? Da darf man sich schon empören. Mit Recht. Und ohne sofort unter Neid- oder Wutgeneralverdacht gestellt zu werden.
Der Empörungsstoff betreffe mittlerweile sehr Grundsätzliches, findet Marie-Luisa Frick von der Uni Innsbruck: "Es geht um eine substanzielle Krise des politischen Systems." Die Gewaltentrennung werde zunehmend unterlaufen. "Die Regierung nutzt das Parlament als Ausführungsorgan, und sie selbst ist das Ausführungsorgan der Lobbys und Konzerne", kritisierte die Philosophin. Dazu komme, dass "eine Mehrheit spürt, dass das Maß der Erträglichkeit überschritten ist, was die Inferiorität des Politikerpersonals betrifft." Nach Max Webers Unterscheidung zwischen Politikern, die für die Politik leben, und jenen, die von der Politik leben, gewinnt demnach die zweite Gruppe zulasten derer, die mit Leidenschaft gestalten wollen. "Wir haben die Politik ausgelagert zu Parteien, die nach einer vollkommen anderen Moral - einer Art Mafia-Moral - handeln."
Praktische Moralübungen
Woher überhaupt eine Moral nehmen? Eine gute noch dazu? Oder reicht die, die man den Wählerinnen und Wählern verkauft?
Nun, der Politik moralisch zu kommen gehe meist ins Leere, meinte der Wiener Moralphilosoph Georg Schildhammer. Am einfachsten und entlarvendsten sei ein Abgleich zwischen rhetorischer und faktischer Moral der Parteien und ihrer Vertreter.
Dazu gab Schildhammer ein bisschen Nachhilfeunterricht in angewandter Moralkunde für praktizierende Politiker.
Hausaufgabe für die ÖVP: Passt es zusammen, "Leistung" zu predigen und im EU-Parlament dem, der auf die Frage "Wos war mei Leistung?" antworten kann: "Ich habe die meisten Vorzugsstimmen gesammelt", einen niederösterreichisch besser vernetzten Ex-Minister als Fraktionssprecher vorzuziehen? Oder für die SPÖ: Wie glaubhaft lässt sich soziale Gerechtigkeit als Parteitradition auf dem politischen Marktplatz handeln, wenn ein Ex-Gewerkschaftschef im Penthouse logiert? Das Gleiche in Grün: Gegen Überwachungsstaat kämpfen - und dann lässt ein Parteigänger im ORF Gespräche mitschneiden?
Und FPÖ/BZÖ? Tja, gegen rot-schwarzen Filz aus alten Tagen in die Schlacht zu ziehen und dann hochrangige Blau-Orange im Korruptionssumpf wiederzufinden, könnte doch sehr nach doppelten moralischen Standards riechen.
Dabei wäre für vieles gar keine große moralische Selbstgeißelung notwendig. "Viele Probleme sind auf relativ pragmatischer Ebene zu lösen", sagte Liessmann. Tun! Machen! Reformieren! "Österreich hat eines der rückständigsten Parteifinanzierungsgesetze. Lachhaft." Ändern können es nur die, die davon profitieren. Die Parteien selbst. Wenn sie wollen.
Was bleibt zum Schluss? Die Erkenntnis, wenn nach Hannah Arendt "das Politische die Sphäre der Freiheit ist, dann dürfen wir in diesem Rahmen - und nur in diesem - Wunder erwarten", sagte Marie-Luisa Frick.
Keine blauen, orangen, roten, schwarzen, grünen etc. Einfach nur gute, positive Wunder. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, Printausgabe, 21.9.2011)