Wer die Entwicklungen in der Türkei seit Jahren beobachtet, muss sich in immer kürzeren Abständen erstaunt die Augen reiben. Noch vor Kurzem konnte man feststellen: Was vorige Woche galt, gilt heute nicht mehr. Nun gilt das Gleiche fast schon für das, was gestern war. Und seit vergangener Woche sogar für das Verhältnis zu nicht-muslimischen Minderheiten.
Diesmal ist alles anders
Ministerpräsident Erdogan und seine Frau hatten die Würdenträger der nicht-muslimischen Minderheiten Anfang des Monats zum Fastenbrechen eingeladen. Bei solchen Veranstaltungen wurde traditionell die tolerante Haltung der Türkei gegenüber den nicht-muslimischen Minderheiten betont. Diesmal war es anders. Erdogan gab bekannt, dass am Vortag eine Verordnung veröffentlicht worden sei, auf deren Grundlage den Gemeindestiftungen der nicht-muslimischen Minderheiten alle vom Staat konfiszierten und noch in Staatsbesitz befindlichen Immobilien zurückgegeben würden. Für alle Immobilien, die nicht mehr zurückgegeben werden können, würde der Verkehrswert erstattet.
Das klang für viele fast wie ein Wunder. Denn insbesondere die monetäre Entschädigung der nicht-muslimischen Gemeindestiftungen für Immobilien, die ihnen nicht mehr zurück übertragen werden können, ist in der Türkei stark umstritten. Ein neues Stiftungsgesetz, das 2004 alle Probleme der Gemeindestiftungen lösen sollte, konnte die Frage der finanziellen Entschädigung nicht lösen. Zu groß war der Widerstand vieler (ultra-)nationalistischer Abgeordneter: Ihren Unmut fassten sie in Worte, die von den nicht-muslimischen Minderheiten nur noch als Hasssprache verstanden werden konnten.
Die aktuelle Regelung wurde nun in einer Rechtsverordnung versteckt, die sich zunächst ausführlich mit dem Funktionieren des Landwirtschaftsministeriums befasst. Unbeachtet hätte die Regelung aber nicht bleiben können. Denn sie sieht nicht nur vor, dass die Gemeindestiftungen die Rückübertragung von Immobilien bzw. deren monetäre Entschädigung beantragen müssen. Das Parlament muss dem dann auch noch zustimmen. Allerdings hat Erdogans AKP dort eine Mehrheit. Selbst (ultra-)nationalistische Abgeordnete dürften sich einer Zustimmung nicht verweigern können.
Eine Hinwendung zur EU?
Ist die Türkei damit wieder auf dem Weg nach Brüssel? Nein. Das Grundproblem faktisch aller Religionsgemeinschaften in der Türkei bleibt auch weiterhin ungelöst. Sie existieren rechtlich gesehen überhaupt nicht. Gleichwohl sind ihre Immobilien, Kirchen, Klöster, Schulen etc. in den erwähnten Gemeindestiftungen organisiert. Jetzt bekommen sie immerhin Eigentum zurück, das ihnen auf der Grundlage einer Verordnung von 1936 und eines Urteils des Kassationsgerichts von 1974 weggenommen wurde.
Diese Entscheidung ist zwar von grundsätzlicher Bedeutung im Hinblick auf den Umgang der Türkei mit ihren nicht-muslimischen Minderheiten. Sie betrifft aber nicht alle nicht-muslimischen Minderheiten. So gibt es etwa keine römisch-katholischen oder presbyterianischen Gemeindestiftungen in der Türkei, gleichwohl auch diese Kirchen schon vor der Unabhängigkeit der Türkei 1923 existiert haben. Und sie betrifft schon gar nicht jene evangelischen Freikirchen oder die Baha'i, die erst in den letzten zwanzig, dreißig Jahren in der Türkei aktiv geworden sind. Aber auch unabhängig von solchen Überlegungen ist eine Lösung der angesprochenen grundlegenden Probleme der Religionsgemeinschaften in der Türkei nur von einer neuen türkischen Verfassung zu erwarten, die sich im Kapitel Grundrechte eng an der Europäischen Menschenrechtskonvention und deren Festlegungen zur Religionsfreiheit orientiert. (Otmar Oehring, derStandard.at, 21.9.2011)