Wien - Müco, an dessen Hals eine Halbmond-Kette baumelt, die seinen türkischen Background verrät, sitzt auf seinem Stammplatz. Da er in der Nähe wohnt, dient dem 17-Jährigen der kleine Park nahe der U-Bahn-Station Reumannplatz als zweites Wohnzimmer. Hier raucht er, "chillt" oder trifft sich gegen Abend mit seinen Freunden. Der Reumannplatz sei nicht gefährlich. Hin und wieder eine kleine "Fetzerei", gerne werde das zu Wahlwerbezwecken übertrieben. Hier habe man seine Ruhe, meint er.
Der Lehrling weiß, dass es im ehemals dunkelroten Favoriten viele FPÖ-Wähler gibt. Er selbst geht wählen und informiert sich über Politik in Heute oder Österreich. Müco ist zufrieden - wenn er älter ist, würde er trotzdem gerne aufs Land ziehen, in eine ruhigere Gegend.
Von den vielen hübschen Mädchen, die sich hier auf dem Laufsteg Favoritenstraße präsentieren, seien die meisten im Sommer in den Wiener Freibädern anzutreffen. Er selbst kann diese nicht aufsuchen, denn er ist heute im Krankenstand.
Etwa zwanzig Meter weiter haben die Alkoholiker ihr Lager aufgeschlagen. Neben den grölenden Männern sitzen die Gymnasiasten Ramona, Christoph und Christina und genießen ihr Eis. Sie amüsieren sich über einen schlafenden Betrunkenen, der die Kontrolle über seine Blase verloren hat.
Die drei autochthonen Österreicher sind nicht gerne hier, zu viele "Ausländer". Die 14-jährige Ramona berichtet von Negativbeispielen aus ihrer Schule, nicht ohne zu betonen, dass es auch Ausnahmen gebe.
Für Christoph, elf Jahre alt, ist die Schule ein "Gefängnis". Seine Kollegen, mehrheitlich Araber, seien "komisch" und ständig am Streiten. Die Lehrer unternehmen nichts. Die drei wirken souverän in dieser Thematik, sie erzählen, dass ihre Eltern genauso denken. Christoph erklärt, dass er, wenn er seine Mutter bei der Arbeit begleitet - sie ist Beamtin -, oft mit "komischen Ausländern" in Kontakt kommt.
Von Kopftüchern fühlen sich die drei provoziert.
Am Reumannplatz scheinen klare Grenzen zu existieren. Hier die alten Betenden, dort die Betrunkenen. Nahe einer Kirche liegt ein kleiner Park inklusive Fußballplatz. Hier bewegen sich fast ausschließlich Kinder und ihre Eltern.
Eine Gruppe kleiner Burschen spielt Basketball. Die Eltern überwachen ihre Schützlinge mit Argusaugen.
Die anschließende Favoritenstraße ist trotz der Affenhitze brechend voll. Mädels im Leopardenlook, die unter Zeitdruck stehen, alte Männer mit Gebetsketten und einige Gruppen Jugendlicher, die rauchend und wild gestikulierend ihre Kreise ziehen.
Fastfood-Lokal und Drogerie fungieren als Hot Spots in diesem Spiel um Aufmerksamkeit. Ein schwules Paar pendelt zwischen Fotoautomat und öffentlicher Toilette.
"Ein Türke und ein Bulgare", meinen Tugay (22) und Abidin (20). Die beiden Letztgenannten sitzen verträumt auf einer Bank inmitten des Trubels. Beide sind Schüler in einer HTL, vorher besuchten sie einen Aufbaulehrgang. Tugay schwenkt einen Zettel, der sich als Bewerbung entpuppt. Obwohl sie nicht in Favoriten wohnen, kommen sie immer wieder gerne zum Reumannplatz. "Gefährlich? Hier laufen Mütter mit Kinderwägen herum!"
Türken als Sündenböcke
Die beiden, die viele "österreichische" Freunde haben, sind vom Thema Migration schon genervt, immer müssten die Türken als Unruhestifter herhalten. Die Religion spiele hier eine Rolle, "beliebtere" Migrantengruppen seien schließlich Christen.
Beide gehen wählen, doch als Türke habe man sowieso keine Auswahlmöglichkeiten.
Tugay ist gläubiger Muslim, geht in die Moschee und weiß, dass der Koran Gewaltlosigkeit predigt. Seine Frau müsste eine Muslimin sein. Abidin betont: "Mädchen ist Mädchen: Alle gleich zickig."
Beide fühlen sich als Türken, sie würden sowieso nie als Österreicher wahrgenommen werden. Man könne sich immer beschweren, aber eigentlich ist dann "eh alles wurscht".
Die beiden Cousinen Nurseda und Kübra, beide 17 Jahre alt, nutzen die Favoritenstraße zum Shoppen. Eigentlich, sagen sie, hassen sie das Grätzl Reumannplatz, man brauche hier nur jemanden "schief angucken", schon könne ein Streit entfachen. Als hübsches Mädchen oder "streberhaft" aussehender Junge solle man die dunklen Ecken der umliegenden Parks lieber meiden. Die "Kiffer", die dort lauern, schimpfen solche Passanten gerne.
Mädchen seien aber oft auch in der Täterrolle zu finden, glauben die beiden, meist aggressiver als ihre männlichen Pendants. "Denn diese Mädels sind stolz."
Hin- und hergerissen
Beide Cousinen sind gläubige Musliminnen, in Österreich geboren, türkischer Migrationshintergrund. Während die Abendgymnasiastin Nurseda sich als Österreicherin fühlt und mit wienerischem Dialekt chattet, meint ihre gleichaltrige Freundin, dass sie zwischen zwei Welten stehe. Im Türkei-Urlaub nenne man sie "Österreicherin", in Wien oft "Türkin".
"Echte Wienerinnen" seien sie beide jedenfalls.
Die Angestellte Kübra trägt Kopftuch, die oberflächliche mediale Behandlung, die der Islam erfährt, ärgert sie. Auch die ständige Kopftuch-Debatte sei übertrieben; ihre Schwester trägt keines, was auch Türken immer wieder wundert. Für Kübra ist das Kopftuch Gepflogenheit, auch ihre Mutter trug eines.
Als die 17-Jährige in einer Trafik Zigaretten kaufen wollte, verweigerte die Verkäuferin die Herausgabe. Die Trafikantin befand Zigaretten als "haram", nach dem islamischen Recht verboten, erzählt Kübra lächelnd und zündet sich ihre "Tschick" an. (Thomas Kriz, DER STANDARD, Printausgabe, 21.9.2011)