Das Amerika des George W. Bush und seiner intellektuellen Strategen hat ein Programm: Was gut für Amerika ist, ist gut für die Welt. Wladimir Putin hat ein Programm: Ein wiedererstarktes Russland ist gut für die Welt.

Welches Programm, von einer Vision ganz zu schweigen, hat Europa? Das Programm des Jacques Chirac: Was Frankreichs Rolle stärkt, ist gut für Europa? Das Programm des Gerhard Schröder: Was mir den nächsten Wahlsieg sichert, muss gut für Deutschland und daher für Europa sein? Das Programm des Silvio Berlusconi: Was meinem Konzern nützt, nützt der italienischen Wirtschaft und daher auch Europa?

In dem mehrtägigen Gipfelreigen, der am heutigen Freitag in St. Petersburg beginnt, wird mehr oder weniger salbungsvoll das transatlantische Verhältnis beschworen werden, das es nach den Brüchen des Irakkonflikts nun wieder zu stärken gelte. Von europäischer und russischer Seite wird viel von einer multipolaren Welt die Rede sein. Und die neue Irakresolution des UN-Sicherheitsrates wird als Beweis dafür gefeiert werden, dass es keine Alternative zu den Vereinten Nationen bei der Bewältigung globaler Konflikte gebe.

"Feierlichkeit nennt man jenen Nebel, mit welchem sich die Dummheit zu ihrem Schutze umgibt, wenn sie in die Enge getrieben wird." Man muss nicht gleich zum drastischen Diktum Heimito von Doderers greifen, um sich klaren Blick zu bewahren. Wenn europäische und russische Akteure die Vorzüge einer multipolaren Welt preisen, dann ist dies angesichts der Realitäten nach dem Irakkrieg vor allem Wunschdenken.

Washington ist der Fraktion der Kriegsgegner gerade so weit entgegengekommen, um sie das Gesicht wahren zu lassen und gleichzeitig die US-Interessen am Golf auch nicht ansatzweise zu beeinträchtigen. In Anerkennung der wahren Verhältnisse ist aus der einstigen Antikriegs-"Achse" Frankreich-Deutschland-Russland inzwischen eine Allianz der Pragmatiker geworden, in der jedes Mitglied versucht, so gut wie möglich im Spiel zu bleiben. Nur der französische Präsident Jacques Chirac versucht die Rückkehr zur Realpolitik noch rhetorisch zu verbrämen. Nach seinem Auftritt als Gastgeber des G-8-Gipfels in Evian wird sich auch das legen.

Nicht abschwächen wird sich hingegen die Konsequenz, mit der die US-Regierung ihre Interessen verfolgt - oder was sie dafür hält. Mit seinem demonstrativen Polen-Besuch als Auftakt seiner Europareise setzt George W. Bush soeben wieder ein klares Zeichen: Die "Willigen" werden belohnt, auch wenn oder gerade weil sie, wie die Polen, den Mund etwas voll genommen haben und nun bei der Verwaltung der ihnen zugeteilten irakischen Besatzungszone die Nato um Hilfe bitten müssen. Das wiederum kommt Washington ganz gelegen. Lässt sich damit doch die Kooperationsbereitschaft bestehender und künftiger Mitglieder der Allianz abklopfen.

Ähnliches findet schon geraume Zeit im Zusammenhang mit dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) statt. Unter mehr oder weniger offenem US-Druck haben zuletzt Albanien und Bosnien-Herzegowina mit Washington Abkommen über die Nichtauslieferung amerikanischer Staatsbürger geschlossen. Mazedonien steht kurz davor - und sieht sich gleichzeitig Warnungen der EU gegenüber. Aber womit kann Brüssel wirklich drohen, außer dem Hinweis, dass man sich beim Beitrittsantrag Mazedoniens "daran erinnern" werde?

Was kann Europa überhaupt der - geistig langfristig vorbereiteten - US-Politik des Faktenschaffens entgegenhalten, und zwar im Sinne einer konstruktiven Konkurrenz unter Partnern? Die Debatte im EU-Konvent über Verfassung und Institutionenreform zeigt einen erschreckenden Mangel an Fantasie und visionärer Kraft. Ohne die aber wird Europa seine gegenwärtige Stagnation nicht überwinden. Was Helmut Kohl über die Gründerväter der EU sagte, gilt heute mehr denn je: Am Ende waren die Visionäre die wahren Realisten. (DER STANDARD, Printausgabe, 30.5.2003)