Hamburg - Phantomschmerzen zählen zu den häufigsten unerwünschten Folgen von Amputationen. Rund 60 Prozent der Patienten, die Gliedmaßen verloren habe, leiden darunter, doch bisher gab es kaum Abhilfe. „Neueste Erkenntnisse zeigen, dass die Umbauprozesse, die im Gehirn auf eine Amputation folgen und für Phantomschmerz verantwortlich sind, verhindert oder sogar rückgängig gemacht werden können", sagte Herta Flor, vom Institut für Neuropsycchologie und Klinische Psychologie in Mannheim, heute auf dem Europäischen Schmerz-Kongress EFIC 2011 in Hamburg. „Wir nützen dazu einerseits die Eigenschaft des Gehirns, auf glaubhafte sinnliche Vorspiegelungen so zu reagieren, als wären sie Wirklichkeit, selbst wenn der Verstand die Wahrheit kennt; andererseits die Möglichkeiten des Neurofeedback, durch das Patienten lernen können, bestimmte Gehirnfunktionen unmittelbar zu beeinflussen."
Kortikale Umbauprozesse verantwortlich
Die Entstehung von Phantomschmerz - der Empfindung, dass eine bereits amputierte Gliedmaße schmerzt - war lange Zeit ungeklärt. „Die Fortschritte der bildgebenden Diagnostik haben nun gezeigt, dass nach einer Amputation bestimmte Umbauprozesse in jenen Teilen der Gehirnrinde stattfinden, die für die Aufnahme von Sinneseindrücken und die Weitergabe von Bewegungsimpulsen an die fehlende Extremität verantwortlich waren", so Flor. Konkret heißt das: Benachbarte Regionen nehmen die nun funktionslosen Areale für ihre eigenen Aufgaben in Besitz, wodurch es zu einer Art Verwirrung, eben dem Phantomschmerz kommt. "Wenn es uns gelingt, diese kortikale Reorganisation zu verhindern, können wir damit auch den Schmerz beeinflussen," so die Mannheimer Expertin.
Prothese als eigene Extremität anerkennen
Im Rahmen des Projekts Phantommind untersuchen Wissenschaftler die Möglichkeiten einer solchen Beeinflussung auf zwei Wegen. Der erste leitet sich von der Erkenntnis ab, dass das Gehirn Sinneswahrnehmungen eher als Wirklichkeit annimmt als Verstandesinhalte. „Wenn dem Gehirn erfolgreich vorgespiegelt werden kann, dass die amputierte Gliedmaße noch vorhanden sei, ‚glaubt' es dies und die schmerzerzeugenden Umbauprozesse bleiben aus", erläuterte Flor. „Wir müssen Patienten also helfen, ihr ursprüngliches Körperbild so gut wie möglich wiederherzustellen und zu bewirken, dass das Gehirn eine allfällige Prothese möglichst als eigenes Glied anerkennt." Zu diesem Zweck werden drei verschiedene Methoden untersucht:
Die „Gummi-Hand-Illusion" besteht darin, die fehlende Hand durch eine realistische Prothese zu ersetzen, und die echte wie die nachgebaute Hand gleichzeitig zu streicheln, während der Patient den Blick auf die Prothese richtet. Nach einiger Übung wird die Prothese als eigene Hand erlebt, und alle Gefühle des Gestreichelt-Werdens stellen sich auch ein, wenn nur die Prothese gestreichelt wird - vorausgesetzt, der Betroffene sieht dieses Streicheln. „Offensichtlich ergänzt das Gehirn die fehlenden Sinneseindrücke automatisch durch jene, die es aufgrund früherer Erfahrungen erwartet", so die Neuropsychologin.
In der „Spiegel-Therapie" wird dem Auge amputierter Menschen durch einen geschickt platzierten Spiegel der optisch Eindruck vermittelt, die fehlende Gliedmaße sei noch vorhanden. Bewegt er oder sie zum Beispiel den noch vorhandenen Arm, sieht er den fehlenden Arm sich scheinbar auch bewegen - allerdings als Spiegelbild des vorhandenen. „Nach vier Wochen täglichen Trainings nahm der Phantomschmerz im Durchschnitt über alle Probanden signifikant ab", berichtete Flor.
Viel versprechen sich die Forscher von einem neu entwickelten Instrument zur Erzeugung einer dreidimensionalen Virtuellen Realität, die bisher aber erst an Gesunden getestet wurde. „Ein Arm wurde dabei durch eine spiegelartige Anordnung versteckt, während die Probanden durch eine Datenbrille zusätzlich zum noch sichtbaren Arm eine naturgetreue 3-D-Rekonstruktion sahen, die wir nicht nur synchron, sondern praktisch beliebig ‚bewegen' können", so Flor. „Es zeigte sich, dass der bloße optische Eindruck einer Bewegung im primären sensomotorischen Kortex der dafür zuständigen Gehirnhälfte die gleichen Aktivitäten auslöste wie eine echte Bewegung. Der Eindruck einer Bewegung in einer virtuellen Umgebung wird also als Bewegung der eigenen Gliedmaße wahrgenommen."
Anhand der Untersuchung kamen die Experten zu dem Schluss, dass die Wirksamkeit einer Illusion von ihrer Wirklichkeitsnähe abhängt, wie naturgetreu also beispielsweise eine Gummihand geformt ist. Einschränkgungen gibt es: „Wir sehen aber auch bei guten Illusionen eine große Bandbreite des Ansprechens. Die Gründe dafür sind Gegenstand weiterer Forschungen," ergänzt Flor.
Bewusste Steuerung von Gehirnaktivitäten
Für Patienten, deren Gehirn sich durch optische Illusionen nicht beeindrucken lässt, erproben die Forscher bereits einen direkteren Weg - Neurofeedback, eine Methode, die erst in allerjüngster Zeit durch Fortschritte der medizinischen Bildgebung möglich wurde. Neurofeedback erlaubt die unmittelbare Beeinflussung von Gehirnaktivitäten, die durch hochauflösende funktionale Magnetresonanzaufnahmen in Echtzeit rückgemeldet werden. „Gesunde Probanden konnten so erfolgreich lernen, die Aktivität von Gehirnregionen, die durch Schmerzimpulse ausgelöst wurde, willentlich hinunterzuregulieren, wodurch auch die Schmerzwahrnehmung abnahm", so Flor. Diese Methode scheint vielversprechend nicht nur für Phantomschmerzpatienten, sondern auch für chronischen Rückenschmerz oder generalisierte Schmerzsyndrome. (red)