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Medienvielfalt in einer U-Bahn in Cambridge (Massachusetts) USA: Für ein friedliches Nebeneinander von analog und digital müssen noch etliche neue Übereinkünfte getroffen werden.

Foto: REUTERS/Brian Snyder

Was ist ein Buch? Was zwischen zwei Buchdeckeln steckt, nachdem jemand ein einigermaßen komplexes Thema ausführlich zusammengefasst und an die Öffentlichkeit gebracht hat. Das kann eine Vampirstory, ein Forschungsbericht über das Funktionieren des Gehirns, eine Partitur oder ein Bildband sein. Seit Gründung der frühen Klosterbibliotheken zur ersten Jahrtausendwende hat sich für solche Arbeiten ein Format durchgesetzt, das von Autoren wie Benutzern als praktisch, effizient und oft auch angenehm und schön empfunden wird. Das Lesen und die Büchernutzung zu erlernen macht den Kindern erst Mühe, aber es ist auch der erste Schritt in die Gemeinschaft der Erwachsenen. Kurz gesagt: Am Buch ist verdammt viel aufgehängt. So wiegen Bücher und Lesen schwer.

Ich schreibe das auf, mit einem kleinen Kästchen, irgendwo unterwegs. Der Artikel wird gedruckt werden in einer Zeitung, die, zum Blättern, ähnlich einem Buch funktioniert, und digital über eine Webseite zu lesen sein.

Dass nun mit einem Mal auch Bücher, die höchst aufgeladenen Objekte dieser Zivilisation, in diese Netze und Ströme einfließen, irritiert. Warum eigentlich? Bücher (und Lesen) machen erst Sinn, wenn man sie zusammendenkt zu einer Bibliothek. So hatte es in den Klosterbibliotheken begonnen, und so lernen es die Kinder: Höre den erzählten Geschichten zu, und sammle sie zu deiner individuellen Bibliothek, die sich in deinem Kopf aufbaut, gehe in die Bibliothek, lerne von anderen Lesenden. Auch im Buchgeschäft setzt sich dieser Zugang fort, wenn Bücher empfohlen, geschenkt und diskutiert werden, desgleichen bei ihrer Aufstellung im Wohnzimmerbücherregal als Signal an alle Eintretenden: Was ich lese, verrät, wer ich bin.

Diese Signale und Verknüpfungen haben wir alle in wenig mehr als zehn, fünfzehn Jahren Schritt um Schritt in die Sphäre des Digitalen und Vernetzten getragen. Was das Internet so überwältigend macht, ist genau das: Von E-Mail bis Facebook, von der raschen Recherche, die unterschiedlichste Bibliotheken erschließbar macht, bis zur Bewertung der Funde bei Amazon oder auf Ebay fassen diese Verknüpfungen und Kommunikationen zusammen, was seit Jahrhunderten unser kulturelles und soziales Bewusstsein geprägt hat. Das "Web" katapultiert all diese Interaktionen auf eine neue Ebene, indem es die Reichweite vergrößert (wie der Pfeil es beim Jagen mit dem Arm getan hat) und die Durchschlagskraft erhöht.

Ein großer Sprung: Die österreichische Nationalbibliothek hat einen Pakt mit Google abgeschlossen, um ein paar Hunderttausend Werke in diese Netze einzuspeisen. Es geht um alte Bücher, auf die keine Urheberrechte mehr angemeldet werden können, jedoch aus Zeiten, die die riesigen Bestände dieser Bibliothek - einer komplexen zentraleuropäischen Identitätsmaschine - innerhalb kurzer Zeit erschließen wird. Hier wird ein regionales Babel digitalisiert. Ungarische, kroatische, rumänische, serbische, ukrainische Werke, aus einem weitgehend vergangenen Geflecht ineinandergreifender Minderheitenkulturen sind dann wieder präsent.

Gegenwärtig ist schon rund eine Million aktueller Buchtitel online abrufbar, allerdings überwiegend in englischer Sprache. Das Spektrum reicht vom Schundheft über zahllose Fan-Geschichten (populäre Comics, japanische Mangas) bis zu hochspezialisierten Publikationen einer MIT oder Harvard University Press. Es ist dies aber eine komische und chaotische Bücherwelt. Als ich vor kurzem das neueste Buch des Linguisten Nicholas Ostler als E-Book kaufen wollte, einen Essay über The Last Lingua Franca, über den Aufstieg und - wie er meint, auch absehbaren Abstieg - des Englischen zugunsten eines globalen Kauderwelsch, erlebte ich mein digi- tales Wunder. Natürlich gab es dieses E-Book zum Download bei britischen Buchhandelsketten wie WH Smith oder Waterstones und auch beim längst global aufgestellten Verlagskonzern Penguin.

Aber keines dieser Unternehmen erlaubte mir, mit österreichischer Kreditkarte und IP-Adresse digital einzukaufen, mangels Vorkehrungen für den globalen E-Commerce. Hätte ich gebeten, mir das gedruckte Buch zuzuschicken, wären da üppige Postgebühren angefallen. Die "einfache" Variante online blieb verstopft. Einen Ausweg boten nur die global aufgestellten Unternehmen, in diesem Fall das amerikanische Amazon oder das kanadische Kobo, von dem ich endlich meine Last Lingua Franca bezog.

Die digitale Welt ebnet Unterschiede zunächst nicht ein, sondern verschärft sie. Slowenen mussten bis vor kurzem, wollten sie ein iPad kaufen, erst in einen Apple-Store nach Klagenfurt oder Triest ausweichen, weil Apple den kleinen slowenischen Markt anfangs einfach nicht bediente.

Wer liest die meisten Bücher? Alle - spärlichen - Daten, die wir haben deuten darauf hin, dass der "Buchmarkt", also Autoren, Verlage, Buchhändler, von einer kleinen Gruppe von vielleicht 20 oder 30 Prozent aller Leser lebt, die die teureren, gebundenen Ausgaben kaufen, von denen die Verlage wie auch die Autoren mehrheitlich leben. Diese Lesenden sind gut ausgebildet, haben gute Einkommen und wissen alle vielfältigen Medienangeboten zu nutzen. Sie "beleben" die globale Bibliothek.

Sie sind statusbewusst, beherrschen Fremdsprachen, lesen auf Englisch, sind bildungshungrig und schicken ihre Kinder gerne ins Ausland. Das gilt nicht nur für die westeuropäischen Wohlstandsinseln. In der U-Bahn in Peking fixieren durchschnittlich ein bis zwei Dutzend Passagiere einen Bildschirm, darunter ein bis zwei einen E-Book-Reader, ein bis zwei weitere ein iPad, die anderen ihre Telefone. Viele spielen oder lösen Rätsel, was sich leicht an der ständigen Eingabe erkennen lässt. Ich schätze, dass wenigstens ein Drittel längere Texte lesen, Statistiken sprechen gar von mehr als 40 Prozent.

Ein Buch ist ein praktischer Container für komplexe Inhalte. Wichtiger als einzelne Bücher ist die Bibliothek, aus der erst unsere breite Lesekultur erwächst. Diese Lesekultur ist der Nährboden für Autoren und deren Vermittler, für kommerzielle Akteure am Buch-"Markt" (Verlage, Buchhändler), und für nichtkommerzielle, die sich überwiegend aus öffentlichen Geldern finanzieren (Festivals, Literaturhäuser). Aber die Klammer bilden doch die Lesenden und die Autoren.

Die Angstdiskussion um die turbulenten Veränderungen werden weitgehend ohne die Lesenden geführt, die Autoren werden fast nur als potenzielle Opfer betrachtet. Das ist grober Unfug. Wenn ein Buch komplexe Inhalte öffentlich macht, sollen die Urheber - und alle daran beteiligten Dienstleistenden, Verlage, Händler, Übersetzer - ordentlich entlohnt werden. Ein entsprechender Verkaufspreis, von dem dann alle ihren Anteil einfordern, ist gewiss ein Modell. Aber es gibt andere.

Fest besoldete Universitätsprofessoren sind seit eh und je das Basismodell in der Wissenschaft. Unter den literarischen Autoren machen Einkommen aus Performances (Lesungen, Medien) längst einen wachsenden Anteil aus, hinzu kommen Stipendien, Preise und andere Förderungen. Ein mühsamer Weg ist die Selbstvermarktung, die für Lyrik, Essays oder Romane die Ausnahme sein sollte, weil sie unweigerlich zur Selbstausbeutung führt. Ein wohlerprobter Weg sind Abgaben, etwa auf Kopiergeräte und Drucker, aus denen Autoren Tantiemen beziehen. Es geht für alle an der geistigen Wertschöpfung Beteiligten um den sinnvollen Mix. Um die Glaubenskriege, die oft den Blick verstellen, geht es nicht.

Schon die traditionellen Bibliotheken gaben einen überwältigenden Blick frei auf die unglaubliche Fülle der Bücher, die nach Ordnung verlangt, damit sie benutzbar wird. Wer aber Ordnung schafft, kontrolliert, übt Macht aus über das Wissen und die Lesenden - denn "Wissen ist Macht". In den digitalen Bibliotheken, die entstehen, gilt dies auf radikalere Weise denn je. Der Streit zwischen Verlagen und Autoren sowie Google um den Zugriff und die Vermittlung digitaler Inhalte ist nur ein Vorgeschmack. Amazon kommt zunehmend in ähnliche Konfliktkonstellationen mit den traditionellen Anbietern von Inhalten, als heftig expandierender Anbieter von E-Books mit globaler Reichweite, andererseits aber auch schon als Verlag der neuen Art, der es Autoren erlaubt ihre Leser direkt zu erreichen und herkömmliche Verlage wie Buchhandel zu umgehen.

Bald will Amazon Bücher nicht nur verkaufen, sondern im kostengünstigen Abonnement auch verleihen. Für Filme (Netflix) und Musik (Spotify) gibt es solche legalen Angebote bereits, mit Verträgen, die auch die Tantiemen für die Urheber regeln. Hierzulande, in Österreich wie in Deutschland, stemmen sich die Branchenvertreter noch gegen solche Modelle. Aber dass es schleunigst neue Modelle und neue kommerzielle wie kulturelle Beziehungen zwischen allen Beteiligten zu entwickeln gilt und man nicht den illegalen Anbietern in die Hände spielen will, darüber herrscht Einigkeit. Digitale Bücher und Bibliotheken sind keine Frage der Zukunft, sondern längst fester Bestandteil des Lesealltags im "digitalen Dorf", hier und jetzt. Es geht um dessen Gestaltung, und um einen umsichtigen Übergang. (Rüdiger Wischenbart, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 25./25. September 2011)