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Grau geht es zu in den Dolomiten, wiewohl auch modebewusst: Erna (Katharina Lorenz) umwirbt den alternden Glühlampenfabrikanten Friedrich Hofreiter (Peter Simonischek) in der Sommerfrische.

Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Wien - Arthur Schnitzlers Tragikomödie Das weite Land spielt - mit der Ausnahme des mittleren, dritten Aktes - in Baden bei Wien. Im Garten des Fabrikanten Friedrich Hofreiter verhandelt eine illustre Schar von Stützen der Gesellschaft ihre Begehrlichkeiten. Man taumelt durch die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts: Es riecht nach Sommerregen. Ab und zu tropft ein Filzball auf den Tennis-Court, und die Damen und Herren suchen Zuflucht bei flüchtigen Bekanntschaften.

Was aber, wenn man nicht weiß, wo Baden bei Wien liegt? Wenn einem das Land der Seele überhaupt abhandenkommt? Man wählt Ausflüchte. Man sieht sich gezwungen zu verreisen. Regisseur Alvis Hermanis hat Hofreiter (Peter Simonischek) und dessen ganze Entourage zusammengepackt. Baden bei Wien ist ja auch bloß ein Krümel auf der Landkarte. Er hat die Damen und Herren als großzügiger Reiseleiter in die mondänen Hollywood-Hügel entführt.

In einem grauen, schicken Loft voller Sofas knistern die Jalousien. Genia (Dörte Lyssewski), die platinblonde Hausherrin, ist vor allem damit beschäftigt, sich in ihrem seidenen Morgenmantel zu räkeln oder sich des Sitzes ihrer Strumpfhalter zu versichern. Die Hollywood-Streicher schwirren zum Zwecke der "Suspense"-Erzeugung wie Hornissen. Männer mit Borsalinos werfen bedrohliche Schatten durch die Jalousienfront.

Hermanis, der auch die Bühne für dieses betrübliche Schnitzler-Missverständnis eingerichtet hat, ist ein bis zur Verstocktheit aufrechter Künstler. Er steckt Stücke wie Das weite Land ohne Bedenken in seinen nicht eben randvollen Ideensack. Eine Idee pro Aufführung muss reichen. Die Kernthese zu seiner neuesten Ausstattungsorgie lautet: Schnitzler ha-be einen "Film noir" geschrieben. Unerklärlicherweise träumen die Schnitzler-Figuren ihre Erlebnisse aber nur: Sie sind vollauf damit beschäftigt, den Vamp zu geben oder den gepuderten Mafioso. Sie flüchten sich bei jeder Gelegenheit auf eine Couch. Sie unterhalten sich nicht etwa miteinander, sondern sie gewähren einander Analysestunden.

Genia, die doch die dreistesten Anschuldigungen ihres Gemahls über sich ergehen lassen muss, weil sich ein junger Mann ihretwegen erschossen haben soll, führt das süße Leben einer von jeglicher Erwerbsarbeit entlasteten Dauerhysterikerin.

Chandler in Baden

Als Seelendoktor fungiert der Familienfreund der Hofreiters, Arzt Mauer (Falk Rockstroh in der Maske des jungen Bruno Kreisky). In der Villa Hofreiter wird am ehesten ein Roman von Raymond Chandler verfilmt. Finstere Menschen (Martin Reinke als Bankier Natter) sitzen unter Sicherungskästen oder schärfen mit Kreide den Queue. Man hört die Seidenstrümpfe förmlich knistern. Das gewellte Haar federt, die Benzinfeuerzeuge schnappen. Das umständliche Tennis-Spiel wurde gegen Karambol-Billard getauscht.

Nun bringen es die Eigenheiten von Schnitzlers Text unweigerlich mit sich, dass nicht etwa Humphrey Bogart durch die Terrassentür hereintritt, sondern eben Peter Simonischek. Er ist der Wienerische Restposten dieser bizarren Unternehmung: Er rettet die Mannesehre des bis zur Unbedenklichkeit lotterlebigen Hofreiter. Simonischek ist die unbewegliche Masse Mann im verschmockten Cineastenzirkel. Er greift sich schnurstracks die Schnapsflasche, sitzt wie ein Monument vergangener Heldentaten im Fauteuil neben dem Radiokasten - und ist sich selbst gewiss das größte aller ungelösten Rätsel.

Hofreiter zerstört alle Menschen rings um sich, weil er seine Vitalität nicht anders als destruktiv auszuleben vermag. In Wahrheit aber, auf der Drehbühne der Burg, erlebt er bloß einen schrecklichen Albtraum. Er flieht Genias Nähe, um im Hotel am Völser Weiher der herrlich betulichen Mama Wahl (Kirsten Dene) wiederzubegegnen, deren Tochter Erna (Katharina Lorenz) er prompt verführt. Den blassen Fähnrich Otto (Lucas Gregorowicz) erschießt er. Der Mutter (Corinna Kirchhoff) seines Opfers reicht er behandschuht die Mörderhand. Hierauf verfällt er in dumpfes Brüten.

Größter Applaus gebührt nachträglich Klaus Maria Brandauer. Er verzichtete darauf, für Hermanis den Hofreiter zu spielen. (Ronald Pohl, DER STANDARD - Printausgabe, 26. September 2011)