Der erste Este, der gleich beim Aussteigen aus dem Flieger in Tallinn die Besucher außerordentlich freudig begrüßt, ist ein aufgeweckter Drogensuchhund. Nachdem er bei jedem Passagier erfolglos geschnüffelt hat, darf er in der Ankunftshalle noch auf dem Gepäckband laufen und zwischen den Koffern erneut sein Glück versuchen.
Am Ende wird er doch noch fündig. Denn, damit er nicht die Lust an der Spurensuche verliert, kommt schließlich als letztes Gepäckstück ein präparierter Koffer - und ein Quietschball. Unser Hund ist glücklich, obwohl er nichts weiter gefunden hat und sein Frauchen vom estnischen Zoll deswegen ebenfalls.
Trotz dieser ungewöhnlichen Begrüßung macht Tallinn so gar nicht den Eindruck einer Stadt, in der Drogen umgeschlagen würden. Im Gegenteil, die Hansestadt zeigt sich in der Altstadt in altem Glanz. Täglich laden Kreuzfahrtschiffe Touristen an. Im Sprachgebrauch der Einheimischen sind das die "Eintagsfliegen". Trotz des steten Besucherstroms macht die zum Unesco-Weltkulturerbe gehörende Tallinner Altstadt aber keinen überfüllten Eindruck, obwohl es viele historische Sehenswürdigkeiten gibt, die zu besichtigen sich lohnt. Allen voran der Domberg mit der Festung und dem Festungsturm Langer Herrmann, mit der Domkirche und dem jüngsten Kirchengebäude der Altstadt - der Alexander-Newski-Kathedrale. Sie wurde erst 1900 nach dem Vorbild russischer Kirchen des 17. Jahrhunderts erbaut. Eine vergoldete Ikonostase und viele Ikonen schmücken das Innere. Die Mosaike, welche die Außenfassade verzieren, sind in Estland äußerst selten.
Der Turm ist mit elf Glocken bestückt, die schwerste wiegt sage und schreibe 15 Tonnen und ist damit die größte Kirchenglocke im nordischen Raum. Die Stadtmauer ist an vielen Stellen gut erhalten und teilweise begehbar. Auf der Stadtmauer in der Nähe der Kathedrale ist ein lauschiges Café, das Dannebrog.
Nachdem der Besucher einen teilweise recht engen Turmgang bezwungen hat, wird man mit einer tollen Aussicht und freundlicher Bedienung belohnt. Gleich in der Nähe befindet sich der Kiek in de Kök, ein ehemaliger Kanonenturm aus dem 15. Jahrhundert, damals der größte im Baltikum. Er ist völlig restauriert und fungiert nun als Museum.
Noch bis zum Jahr 1877 bestand die Stadt aus zwei autonomen Städten, dem Domberg und der Unterstadt, dem eigentlichen Reval. Im Straßencafé - oder Restaurant - kann man das Treiben genießen und spürt förmlich die Geschichte dieses Ortes.
Wie im Mittelalter
Apropos Restaurants: Seit Jänner ist auch in Estland der Euro offizielles Zahlungsmittel. Die Restaurantpreise sind mittlerweile auf westeuropäischem Niveau, und die Gastronomen produzieren Köstlichkeiten für jeden Geschmack. Wer passend zum Ambiente der Altstadt wie im Mittelalter speisen möchte, sollte in die "Olde Hansa", Vana turg 1, gehen: traditionelle Gerichte und Getränke, Bedienung in historischen Gewändern garantiert. Wir wollen hier nicht unerwähnt lassen, dass stilgerecht auch die Toiletten eine Überraschung sind.
Wer sich für moderne Architektur interessiert, stattet dem Rotermannviertel einen Besuch ab. Es liegt auf halbem Weg zwischen Altstadt und Passagierhafen. Aus dem ehemaligen Industriegebiet wird schrittweise ein moderner Minibezirk mit Märkten, Shops, Restaurants und Bars.
Im KGB-Museum
Die Altstadt lässt sich gut vom Sokos Hotel Viru überblicken, ehemals ein Hotel der sowjetischen Staats-Hotelleriegruppe Intourist. Dieser "Charme" ist auch heute nicht völlig verblasst. Im hoteleigenen KGB-Museum erfahren die Besucher, mit welchen Methoden und Gerätschaften der allmächtige Geheimdienst KGB Gäste und Angestellte gleichermaßen bespitzelte.
Das Zeitgenössische kommt im Jahr der Kultur ebenfalls nicht zu kurz. "Geschichten am Meer" lautet das Motto vieler Veranstaltungen in Tallinn. Damit will die Stadt die jüngste Vergangenheit, sprich Sowjetzeit, überwinden, in welcher der Zugang zum Meer nur eingeschränkt möglich war, und sich wieder stärker dem Meer öffnen. Trotz schmalen Budgets gibt es 251 Projekte und rund 7000 Veranstaltungen. Viele dieser Ereignisse finden am Kulturkilometer an der Küste statt, um die Stadt mithilfe der Kreativität und Fantasie der Künstler wieder mit dem Meer zu verbinden. Renommiertestes Projekt ist das NO99-Strohtheater, gebaut aus 9000 Strohballen. An der Bastion Skane am Rande der Altstadt mit Blick auf das Meer spielt das Theater bis Ende Oktober Werke zeitgenössischer Künstler aus dem In- und Ausland.
Finnland und Estland haben mehr Gemeinsamkeiten als das sie verbindende Meer. Ihre Sprachen sind nahe verwandt, sie haben dieselbe Melodie als Nationalhymne, die Sauna ist ihnen heilig (den Finnen etwas mehr) und ihre Nationalepen sind ähnlich. So bezeichnet denn auch der bekannte finnische Krimiautor Matti Rönka die Esten als den kleinen Bruder der Finnen.
Rund zwei Stunden braucht die Fähre der Reederei Tallink Silja Line von Tallinn nach Helsinki. Noch einmal zwei Stunden sind es mit dem Zug nach Turku - oder Åbo, wie der schwedische Name der Stadt lautet. Alle Straßen sind hier übrigens zweisprachig ausgeschildert.
Das Kulturhauptstadt-Motto "Turku palaa!" ist bewusst zweideutig gemeint: "Turku brennt!" und "Turku kehrt zurück!". Ersteres ist eine Anspielung auf die zahlreichen Stadtbrände. Der verheerende Stadtbrand von 1827 ließ kaum ein Haus verschont. Daher gibt es in Turku vergleichsweise wenig historische Gebäude. Auch heute würden leider viele Finnen Abriss und Neubau der Restauration vorziehen, beklagt ein Einwohner.
Der Stadtteil Luostarinmäki ist damals vom Feuer verschont geblieben und repräsentiert als Freilicht- und Handwerkmuseum das alte, originale Turku. Die Häuser sind mehr als 200 Jahre alt und stehen immer noch an ihren alten Plätzen.
Dem Großbrand ist eine sehenswerte und unterhaltsame Ausstellung im Hauptveranstaltungsort zu der Kulturhauptstadt, in der ehemaligen Maschinenhalle Logomo, gewidmet. Dort zu sehen ist auch Alice in Wonderland als größte Ausstellung zeitgenössischer Fotografiekunst, die es jemals in Finnland gab.
Genug von Kultur? So oder so, ein Abstecher in die Schärenwelt ist einfach Pflicht. Wasser, Wald, Natur, Ruhe und Muße - das findet der Besucher im schönsten Archipelago der Welt, wie die Finnen stolz behaupten. Mit Recht.
Die Landschaft mit den rund 20.000 Inseln hat in der Tat ein ganz besonderes Flair. Viele sind schon seit Generationen in Familienbesitz und mit Häusern bebaut. Nicht wenige Finnen sollen es sich wünschen, ihren Lebensabend auf einer Schäreninsel zu beschließen. Am besten erschließt sich die Schönheit der Inselwelt bei einer Bootsfahrt. (Ingo Paszkowsky/DER STANDARD/Printausgabe/24.09.2011)