
Seinem Geburtsort Braunau - siehe Taufschein - maß Hitler keine Bedeutung bei. Der Ort kann das Thema aber nicht ignorieren, erlangte er doch Weltberühmtheit.
Braunau - Branko Lustig will nicht über Hitler reden. "Der hat doch verloren, und wir Juden haben gesiegt", meint der ehemalige KZ-Häftling 3317. Er krempelt den linken Ärmel seines Hemdes hoch und zeigt seine tätowierte Häftlingsnummer auf dem Unterarm. Als Kind war der gebürtige Kroate in den Lagern Auschwitz und Bergen-Belsen interniert, überlebte und ging nach Amerika. In Hollywood produzierte Lustig Anfang der 1990er-Jahre Schindlers Liste, danach Gladiator, wofür er jeweils einen Oskar erhielt. Nicht den Holocaust, nur die Person Hitler solle man vergessen, sagt der 80-Jährige. Über den für ihn übertriebenen Kult der Führerpersönlichkeit müsse nicht länger gesprochen werden. Doch was die Nazis im Dritten Reich verbrochen haben, das dürfe nicht verdrängt werden.
Um über den Umgang mit diesem Teil der Vergangenheit zu diskutieren, kam Lustig voriges Wochenende zu den Braunauer Zeitgeschichtetagen in Hitlers Geburtsstadt. Zum 20. Mal hatte der Verein für Zeitgeschichte diese mittlerweile internationale Tagung organisiert. "Wie gehen historisch belastete Orte mit ihrem schwierigen Erbe um?" lautete in diesem Jahr die zentrale Frage. Was machte etwa die Marktgemeinde Berchtesgaden nach Kriegsende mit dem Obersalzberg, über den der "Führer" in einem emotionalen Moment gesagt haben soll: "Ja, mit diesem Berg bin ich stark verbunden." Auf ihm ließ er die Residenz Berghof als zweites Machtzentrum neben Berlin errichten und erklärte ihn zum Sperrgebiet.
Erst Trophäen von Hitler
"Vermarkten - verdrängen - vermitteln", so skizzierte Albert Feiber vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin den Berchtesgadener Weg seit 1945. Im Gegensatz zu Braunau sei Obersalzberg nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine Pilgerstätte für Altnazis und Sensationstouristen geworden. "Die Freigabe des Sperrgebiets war der Startschuss für die Vermarktung", erklärte der Historiker. Touristen aus aller Welt, vor allem aus den USA, seien gekommen, um eine "Hitler-Trophäe" zu ergattern. Taschentücher mit den Initialen des "Führers" oder seiner Geliebten Eva Braun wurden in Souvenirshops feilgeboten. 1951 pilgerten 136.560 Besucher auf den Obersalzberg. Ein Jahr später ließ der Freistaat Bayern den Berghof sprengen.
Eine zunehmend negative internationale Meinung über den "braunen Nostalgie-Tourismus" brachte schließlich eine Abkehr vom "Hitler-Merchandising" (Feiber). Der Berg sollte einfach wieder "einer wie jeder andere sein", beschrieb Feiber die Stimmung im Landkreis Berchtesgaden. Doch das Bestreben, den Obersalzberg zu einem "deutschen Davos" zu machen, gelang nicht, "die Schatten Hitlers" waren zu lang. Die Tabuisierung der Geschichte habe den Berg, so der Wissenschafter, erst recht interessant gemacht: "Sie trug zur Mythenbildung bei, Hitler habe auf dem Obersalzberg eine Alpenfestung bauen wollen."
Jetzt Vermittlung der Historie
Heute befinden sich auf dem Obersalzberg ein Luxushotel und eine Dokumentationsstätte, deren Konzept das Institut für Zeitgeschichte entwickelte. Auf Druck der bayerischen Staatsregierung wurde Ende der 1990er-Jahre dieses Zweisäulenkonzept verwirklicht, erläuterte Ausstellungskurator Feiber: touristische Nutzung des Naturjuwels Obersalzberg und Vermittlung des geschichtlichen Erbes.
"Besser hätte man den Ort nicht entzaubern können", meint der Berchtesgadener Bürgermeister, Franz Rasp, heute. Noch 1992 schlug der seinerzeitige Bürgermeister die Einladung nach Braunau zu den ersten Zeitgeschich- tetagen mit dem Thema "Unerwünschtes Erbe" aus . Zu der Einsicht, "eine negative Erinnerung heißt nicht gleich ein negatives Selbstbild", seien laut Rasp die Berchtesgadener erst in den letzten Jahren gelangt. Ebenso habe "sein" Ort erkannt, dass "über eine Stätte mit einer welthistorischen Dimension, wie es der Obersalzberg ist, kein Gras wachsen kann".
Mit der Aufklärungsarbeit durch die Dokumentation habe der Berg jedenfalls an Attraktivität für Alt- und Neonazis verloren, versicherte Rasp in Braunau. Allerdings könne er nicht verhindern, dass nicht doch Grablichter für Hitler angezündet werden oder regelmäßig das Wort Holocaust auf der Infotafel, die sich an jener Stelle befindet, wo einst der Berghof stand, zerkratzt wird. Aber eine Pilgerstätte für Ewiggestrige sei der Obersalzberg nicht mehr.
Mit derartigen Problemen kämpft hingegen Giorgio Frassineti, Sindaco (Bürgermeister) von Predappio. Er war zur Tagung nach Braunau gekommen, um sich Lösungsansätze anderer geschichtsbelasteter Orte anzuhören. Das italienische Predappio, jener Ort, in dem Benito Mussolini geboren wurde und in den dessen sterbliche Überreste gebracht wurden, mutiert dreimal im Jahr zum Wallfahrtsort für Faschisten - "und zunehmend auch für Schaulustige", ergänzt der Bürgermeister. 100.000 Menschen pilgern jährlich zur Krypta Mussolinis, am Geburts- und am Todestag des "Duce" sowie am Jahrestag des Marsches auf Rom. Diese Veranstaltungen organisiere ein fundamentalistischer Priester.
Im Gegensatz zu Berchtesgaden wurde die Erinnerung aber nicht zerstört, indem etwa die Krypta gesprengt worden wäre. Gegen diesen Vorschlag habe sich Frassineti gewehrt: "Diese Präsenz gehört zu unserer Geschichte. Predappio muss selbst verstehen lernen, was es im 20. Jahrhundert war."
Lange Zeit habe sich sein Ort dafür geschämt. Mittlerweile wurde zumindest Mussolinis Geburtshaus zu einem Ausstellungsort. "Darin zeigen wir auf jene Zeit bezogene kulturell relevante Ausstellungen." Für den Bürgermeister ist "nur durch Kultur etwas zu erreichen".
In Hitlers Geburtshaus versucht der wissenschaftliche Leiter der Zeitgeschichtetage, Andreas Maislinger, das Projekt "Haus der Verantwortung" zu errichten. Branko Lustig unterstützt dieses Vorhaben. In diesem Haus möchte er, dass vor allem Toleranz vermittelt werde: "Das ist der einzige Weg, damit der Holocaust nicht noch einmal passiert." (Kerstin Scheller, DER STANDARD, Printausgabe, 27.9.2011)