Wenn Peter Parker in sein Spiderman-Kostüm schlüpft, verleiht ihm das Kräfte, die er im Kampf für das Gute einsetzt. Im dritten Teil der Comic-Verfilmung macht sich plötzlich die Kraft des Bösen den Helden Untertan. Eine sirupartige Substanz stülpt sich wie eine zweite Haut über Körper und Persönlichkeit des Helden und lässt ihn in übermenschlicher, destruktiver Kraft erstrahlen. Die schwarze Rüstung verleiht dem Träger eine gewissenlose Macht über Leben und Tod, die schließlich ein anderer einsetzt, um ihm zugefügte Schmähungen zu rächen. 

Ähnlich wie dieses bösartige, zerstörerische Kostüm kann man sich den Amok vorstellen, der von einer Persönlichkeit Besitz ergreift und sie töten lässt. "Der Täter schafft sich eine Identifikation mit einer sehr starken Heldenfigur, um die eigene Schwäche zu kompensieren", erklärt der Wiener Neurologe und Psychiater Thomas Stompe. Im Vorfeld der meisten Amokläufe sind subjektiv erlebte Kränkungen und Zurücksetzungen zu beobachten. 

Mord und Selbstmord

Die Weltgesundheitsorganisation WHO bezeichnet Amok als "kulturspezifische psychische Störung". Der deutsche Amok-Forscher Lothar Adler definiert den modernen Amok als "Sonderform eines Tötungsdeliktes, bei der sowohl Mord als auch Selbstmord gleichzeitig zumindest als Intention auftreten." 

Aus der Sicht psychischer Erkrankungen lassen sich drei Störungstypen klassifizieren, die bei Amokläufern vorliegen. "Die erste Gruppe hat einen psychotischen Hintergrund, zum Beispiel Schizophrenie. Dann gibt es jene, die dissozial, also antisozial orientiert sind. Bei der dritten Art liegt eine traumatische Erfahrung zugrunde", sagt Stompe. 

Amok ist ein sehr seltenes Ereignis: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann in Deutschland Amok läuft, liegt bei 1 : 1 Million, dass eine Frau so etwas tut, bei 1 : 20 Millionen, fand Lothar Adler 2002 in einer Studie heraus.

Die Täterpersönlichkeiten sind vielfältig. Als ein gemeinsames Merkmal benennt die Forschung aber eine narzisstische Identitätsunsicherheit, die eine besonders empfindliche Reaktion auf vermeintliche Kränkungen nach sich zieht. Stompe: "Amokläufer sind eine heterogene Personengruppe als gemeinsamer Kern hat sich die narzisstische Zurücksetzung erwiesen, die beim Amoklauf kompensiert wird durch die Identifikation mit einer sehr starken Figur." 

Vulnerable Pubertät

Amok hatte immer schon mit Kränkungen zu tun und war ursprünglich ein kriegerisches Gruppenverhalten mit Tötungswillen. "Das gab es in Malaysia genauso wie bei französischen Soldaten oder der deutschen SS", erklärt Lothar Adler. Bei der individualisierten Form, von der im Allgemeinen als moderner Amok gesprochen wird, spielen psychische Krankheiten und biologische Störungen zusammen, sagen die neuesten wissenschaftlichen Hypothesen.

Amokläufe in der westlichen Welt finden oft im Umfeld von Schulen statt und werden daher auch als "School-Shootings" bezeichnet. Hier steckt die gewaltbereite Altersgruppe in der Pubertät, die gekennzeichnet ist durch die Suche nach Identität, während der vulnerable Phasen an der Tagesordnung sind. Die Schule ist der zentrale Lebensraum dieser Altersgruppe und in den meisten Fällen der Ort, an dem die Kränkung stattfindet - entweder durch Mitschüler oder durch Lehrer. An den Schulen erreicht der Täter auch viele Opfer, das beschert ihm einen hohen Bekanntheitsgrad in den Medien und befriedigt sein gekränktes Selbst. "Auch wenn die meisten Amokläufe in Selbstmord gipfeln, die Täter wollen in Erinnerung bleiben", so Thomas Stompe.

Herr über Leben und Tod

Amoktäter sind akribische Planer, die ihre Tat nicht im Affekt verüben: Dem Amoklauf geht eine monatelange Phase der Planung voraus, die Kränkung als Auslöser liegt bei der Tat lange zurück. Manchmal wird mithilfe von Computerspielen die Tat auch simuliert. Danach folgt eine Phase des Rückzugs, in der der Täter innerlich mit sich und der Welt abschließt und nur in seinen Fantasien lebt.

Daran schließt sich eine kurze Spanne der Konkretisierung innerhalb der Vorbereitung, der Tag wird festgesetzt. Der Täter wird beherrscht von Größenfantasien, sieht sich als übermächtigen Krieger, der als Einzelkämpfer in die Schlacht zieht. Während der Tat beherrscht ein Allmachtsgefühl den Schul-Shooter, der in den meisten Fällen erst durch den eigenen Tod gestoppt wird. 

Die jugendlichen Schul-Amokläufer stehen durch Lehrer und Schulkollegen quasi unter sozialer Aufsicht. Liegt darin eine Möglichkeit, die Katastrophe zu verhindern? „Entscheidend ist, Sensibilität zu erzeugen, damit Schüler gar nicht erst in Aussenseiterpositionen kommen", meint Thomas Stompe. "Die beste Prävention ist eine gefestigte Klassengemeinschaft und ein aufmerksamer, sensibler Pädagoge." 

Leider gibt es die "schwarze Rüstung" des Amokläufers nur im Film. Im echten Leben braut sich ein Amoklauf im Inneren eines Menschen zusammen. Er bleibt nach außen hin unsichtbar und meistens auch unvorhersehbar. (Gabriela Poller-Hartig, derStandard.at, 16.12.2012)