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Das Bild des Ersten Weltkriegs, wie er im Westen geführt wurde: Britische Truppen an der Somme in Frankreich im Kampf gegen deutsche Truppen - im Juli 1916.
2014, wenn man sich allerorts an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erinnern wird, könnte für Österreich ein Jahr der Verdrängung werden. Wissenschafter, die sich mit diesem Krieg beschäftigen, befürchten jedenfalls, dass die Politiker nicht bereit sein werden, sich zu erinnern, weil sie das - zumindest in diesem Fall - auch bisher nicht getan hätten. Die Gründe und Auswirkungen von vier Jahren, in denen 60 Millionen Soldaten kämpften, wobei etwa 6000 täglich getötet wurden, sind nicht im österreichischen Gedächtnis verankert.
"Man muss endlich einmal festhalten, dass der Erste Weltkrieg wesentlich von Österreich begonnen wurde", sagt zum Beispiel Lutz Musner, stellvertretender Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften an der Kunstuniversität Linz (IFK). Die "unverantwortliche Politik" im Umgang mit den slawischen Volksgruppen, die zumindest mehr Autonomie im Vielvölkerstaat haben wollten, "war einer der Gründe für die Eskalation", sagt er. Besonders Serbien, dem die Regierung in Wien schon vor dem Attentat auf Thronfolger Franz Ferdinand durch den bosnischen Serben Gavrilo Princip am 28. Juni 1914 einen radikalen Panslawismus unterstellte, stand im Fokus einer aggressiven Außenpolitik. "Das Attentat bot dann bloß den äußeren Anlass, zu einer martialischen Kriegspolitik überzugehen."
Musner hat nun gemeinsam mit IFK-Direktor Helmut Lethen und dem deutsch-amerikanischen Historiker Michael Geyer eine Tagung über den Ersten Weltkrieg konzipiert: "Geo-Politics in the Age of the Great War 1900-1930" (6. bis 8. 10.). Dabei wird es darum gehen, den Krieg nicht mehr als für sich allein stehende "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts zu sehen, als Schlachtengemälde mit Soldaten in Schützengräben, im Schlamm und in brennenden Doppeldeckerflugzeugen. Vielmehr soll der Krieg in eine weiter gespannte Geschichte des 20. Jahrhunderts eingebettet werden. Zwei Folgetagungen jeweils im Herbst 2012 und 2013 sollen diese Sichtweise vertiefen.
Lange Gewaltgeschichte
Schon seit mehreren Jahren vertreten Historiker die Ansicht, dass 1914 eigentlich ein zweiter Dreißigjähriger Krieg begann, der erst mit der Kapitulation der Nazis im Mai 1945 zu Ende ging. Musner meint sogar, dass der Krieg eine erste von mehreren Eskalationen des vergangenen Jahrhunderts war, die bis 1989, bis zum Fall des Eisernen Vorhangs, andauerten. Er sieht die Verbreitung des Kommunismus nach der Oktoberrevolution 1917 und die daraus entstehenden Staatsformen sowie den Kalten Krieg als Teil dieser umfassenden Gewaltgeschichte.
Tatsache ist, dass die Folgen des Ersten Weltkriegs nachhaltig waren: Monarchien wie Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn zerbrachen genauso wie das Osmanische Reich. Neben dem Kommunismus entstanden zwei weitere, die nächsten Jahrzehnte prägende Ideologien: der deutsche Nationalsozialismus und der italienische Faschismus. Die Weltwirtschaftskrise und der damit verbundene Hunger begünstigten die Verbreitung von Feindbildern.
Musner wird in seinem Vortrag über die Technologie und die Geografie des Krieges sprechen und fragen: Was genau bedeuten Landschaften und Techniken des Krieges und welche Soldaten-Männer entsteigen dem Horror der Schützengräben?
Dazu muss man bedenken, dass erst die industrielle Massenproduktion von Waffen einen Massenvernichtungskrieg - unter anderem mit Giftgas - möglich machte. Hier wurde der Mensch erstmals "als biologisches Material gesehen, das zerstörbar ist", sagt der Historiker Geyer, der in diesem Zusammenhang auch von einem ersten Aufkommen "einer zutiefst rassistischen Techno- und Vernichtungspolitik" spricht.
Beispiele, die seine Aussage bestätigen, gibt es reichlich: Im Herbst 1914 meinte der deutsche Kaiser Wilhelm II., man solle 90.000 russische Kriegsgefangene auf der Halbinsel Kurische Nehrung, die heute zu Litauen und Russland gehört, verhungern lassen. Wenig später wollte der Monarch Belgien und Frankreich ethnisch säubern. Und lange nach der Niederlage, 1927, schrieb er an einen amerikanischen Freund, man sollte sich von der Presse, den Mücken und den Juden, einer "Pest", am besten durch Gas befreien.
Von derlei Vernichtungswahn vor der Nazizeit erfährt man in Schulgeschichtsbüchern wenig. Die Tagung am IFK soll aber noch ganz andere Blickwinkel auf den Ersten Weltkrieg öffnen: Wie sehr nahm der Kriegsschauplatz auf den späteren Verlauf der Geschichte Einfluss? Musner erzählt, der spätere italienische Faschistenführer Benito Mussolini und der Austrofaschist Emil Fey seien sich am Isonzo im heutigen Slowenien mit großer Wahrscheinlichkeit gegenübergestanden, nur durch wenige hundert Meter voneinander getrennt. Die maschinelle Gewaltexplosion im Karst und das daraus resultierende Trauma habe aus seiner Sicht das Weltbild der beiden Soldaten geprägt: eine gleichermaßen techniksoziologische wie psychoanalytische Sichtweise ideologischer Wurzeln.
Der Osten sei in der bisherigen Geschichtsschreibung des Ersten Weltkriegs insgesamt unterbelichtet, meint Geyer, was einen plausiblen Grund hat: Die historischen Archive wurden erst nach dem Ende des Kommunismus in Europa geöffnet. "Hier gibt es viel aufzuarbeiten und nachzuholen." Was geschah also an der Front zwischen Ostsee und Schwarzem Meer und auch dahinter während und nach der Oktoberrevolution?
Weibliche Heimatfront
Mit der Geschichte der Frauen im Ersten Weltkrieg, bisher auch kaum beachtet, beschäftigt sich schließlich Christa Hämmerle im Rahmen der Tagung. Die Historikerin organisiert an der Universität Wien auch eine eigene Konferenz zum Thema: "The First World War in a Gender Context. Topics and Perspectives" (von 29. 9. bis 1. 10, Campus der Universität Wien, Spitalgasse 2-4, 1090 Wien). Sie sagt, Frauen seien nicht nur an der "weiblich konnotierten Heimatfront", sondern auch in Kampfgebieten zum Einsatz gekommen -und zwar nicht nur als Krankenschwestern. Der Krieg brauchte diese Unterstützung. Die Darstellung des "wirkmächtigen" Mannes habe zu einer hegemonialen Gesellschaftsordnung geführt und zu einem Erlahmen pazifistischer Bemühungen.
Ob derlei Erkenntnisse das offizielle Österreich dazu bringen, über Ursachen und Auswirkungen des Ersten Weltkriegs offen zu diskutieren? Musner glaubt nicht daran. "Der Erste Weltkrieg ist eine Kann-Erinnerung, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust sind zum Glück schon eine Muss-Erinnerung." Auch Geyer zweifelt am Geschichtsbewusstsein österreichischer Politiker. "Vielleicht wird hier noch immer das Habsburgerreich idealisiert. Und man ist aufgrund seines Endes im Weltkrieg nicht interessiert, an 1914 zu denken." Dabei sei das ja auch ein Anfang gewesen, der Anfang von Republik und Demokratie. "Aber das vergisst man."