Während junge Vögel und Säuger ohne elterliche Fürsorge nicht überleben können, kommt der größte Teil der Tierwelt ohne sie aus: Die meisten Arten kümmern sich nach der Geburt bzw. dem Schlupf nicht weiter um den Nachwuchs. Zu den Gruppen, die sorgsame Eltern aufzuweisen haben, gehören erstaunlicherweise auch die mikroskopisch kleinen Bryozoa oder Moostierchen. Andrei Ostrovsky vom Institut für Paläontologie der Universität Wien untersucht die Winzlinge mit finanzieller Unterstützung des Wissenschaftsfonds FWF auf ihr Brutpflegeverhalten.
Bryozoa oder Moostierchen leben seit mehr als 500 Millionen Jahren im Wasser, wo sie auf einem festen Untergrund sitzen und mit ihrem Tentakelkranz nach einzelligen Algen und ähnlicher Nahrung fischen. Ihr Name kommt daher, dass sie moosähnliche Überzüge bilden - auf Seetangblättern, Muscheln, Krebsen und Schiffsrümpfen. Dabei handelt es sich um riesige Kolonien, die aus sogenannten Zooiden bestehen. Das sind Einzeltiere, die jedoch nicht völlig unabhängig voneinander sind: So können sie für bestimmte Funktionen in der Kolonie wie etwa für die Verteidigung gegen Fressfeinde stark abgewandelt sein.
In jedem Fall gibt es physiologische Verbindungen zwischen den einzelnen Zooiden. Die Tiere sind Zwitter, die sowohl Eizellen als auch Spermien ins Wasser abgeben. Die Spermien können viel weiter getragen werden als die Eizellen, ehe sie von den Tentakeln eines anderen Zooids eingefangen und dem Ei in dessen Inneren zugeführt werden. Wie die weitere Entwicklung abläuft, hängt von der jeweiligen Art ab, wurde aber bis jetzt wenig erforscht. So herrschte bisher die Auffassung, dass es nur eine Handvoll brutpflegender Bryozoen-Arten gibt. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: "80 Prozent aller Tierarten sind schlechte Eltern", erklärt Ostrovsky, "aber die meisten Arten der Bryozoa sind gute."
Die meisten seiner Untersuchungsobjekte geben die befruchteten Eier nicht einfach ins Wasser ab, wo sie sich zu frei schwimmenden Larven entwickeln, die selbst für ihr Überleben sorgen müssen, sondern behalten sie in Brutkammern. Danach müssen sie nur noch ein kurzes Larvenstadium durchlaufen, ehe sie die elterliche Kolonie verlassen und eine neue gründen können.
Wie Ostrovsky und sein Mitarbeiter Thomas Schwaha zeigen konnten, werden bei vielen Bryozoa-Arten die Embryonen in diesen Kammern nicht nur geschützt, sondern auch mit Nährstoffen versorgt: Im Extremfall zeigten sie eine mehr als 250-fache Volumszunahme. "So stark könnten sie mit dem Dottervorrat allein nicht wachsen", weiß Ostrovsky. "Hier handelt es sich eindeutig um Matrotrophie."
Plazenta unterm Mikroskop
Matrotrophie ist ein weites Feld, das "jede Nahrung, die die Mutter den Kindern gibt" bezeichnet, wie Ostrovsky ausführt. Dazu gehört etwa auch der Gebärmutterkannibalismus mancher Haie, bei dem der am weitesten entwickelte Fötus im Uterus planmäßig seine Geschwister auffrisst. Weniger spektakuläre Formen der Matrotrophie beinhalten etwa Haut- oder Schleimhautsekrete, die das Muttertier für den Nachwuchs absondert. Nach den Säugern sind die Gruppen mit den meisten matrotrophen Arten die Plattwürmer und die Gliedertiere, und dann kommen schon die mikroskopischen Moostierchen.
"Innerhalb der Bryozoa gibt es verschiedene Fortpflanzungsmuster", führt Ostrovsky aus. Die seltenste ist, viele kleine - also dotterarme - Eier einfach ins Wasser zu entlassen. Viel häufiger werden nur wenige, aber dotterreiche Eier produziert, die sich geschützt in Brutkammern entwickeln. Und dann gibt es noch die Variante, dass wenige kleine Eier in den Brutkammern bleiben und dabei vom Muttertier ernährt werden. Wie Ostrovsky und Schwaha in elektronenmikroskopischen Bildern zeigen konnten, erfolgt diese Ernährung über eine Art Plazenta.
Im engeren Sinn gibt es eine Plazenta nur bei den höheren Säugetieren, bei denen sie eine echte Gewebeverbindung zwischen Mutter und Embryo darstellt, die die Nährstoffversorgung, die Exkretion und den Gasaustausch des Kindes übernimmt. Plazenta-analoge Strukturen gibt es jedoch auch bei anderen Tieren, so etwa bei manchen Haien - und bei Bryozoen.
Wie der Nährstofftransfer zwischen Mutter-Zooid und Embryo im Detail abläuft, untersucht Ostrovsky im laufenden FWF-Projekt. Das anfängliche Problem dabei: "Die Nährstoffe sind völlig löslich", wie der Biologe erklärt, "deshalb kann man sie eigentlich nicht sichtbar machen." Mittlerweile konnte er ihr Vorhandensein bei fünf Arten dennoch belegen, weil sie so dicht sind, dass sie im Elektronenmikroskop quasi als Wolke auftreten.
Gift gegen Feinde und Krebs
Eine ganz andere Art von Wolke interessiert die Forscher ebenfalls: Manche Bryozoen-Arten - vor allem solche mit Plazenta - enthalten Bakterien, die zwar für die erwachsenen Tiere keine Rolle zu spielen scheinen, dafür umso mehr für die Larven, sobald sie die Kolonie verlassen. Mit speziellen Stoffwechselprodukten erzeugen sie eine Art Giftwolke, die die Jungtiere umgibt und vor dem Gefressenwerden schützt. Erst kürzlich konnte Ostrovsky zeigen, dass auch diese Bakterien über die Plazenta in die Embryos gelangen.
Diese Inhaltsstoffe, genannt Bryostatine, interessieren auch Forscher, die nicht mit Moostierchen arbeiten. Man erhofft sich von ihnen Wirkstoffe gegen manche Krebsarten und Epilepsie, außerdem führten sie bei Futterversuchen mit Ratten dazu, dass die Tiere schneller lernten. Der Weg zu brauchbaren Medikamenten dürfte aber noch weit sein: Bis jetzt kann man Bryostatine nur in sehr kleinen Mengen gewinnen. (DER STANDARD, Printausgabe, 28.09.2011)