
Rudolf Müller vom Emergency Services Branch (ESB) beim Uno-Büro für humanitäre Hilfe
Während sich in Libyen Truppen des ehemaligen Machthabers Muammar Gaddafis und Rebellen bekämpften, verschlechterte sich die humanitäre Lage für die Bevölkerung zusehends. Hilfsorganisationen mussten mit beiden Seiten verhandeln, um die Menschen in den umkämpften Gebieten mit Hilfslieferungen versorgen zu können. Auch der Einsatz von europäischen Battlegroups zur Sicherung von humanitären Missionen wurde diskutiert - stets mit der Bedingung, die Uno müsse dafür eine Anfrage an die EU stellen. Warum es nicht dazu kam erklärte Rudolf Müller, ranghöchster österreichischer Vertreter beim Uno-Büro für humanitäre Hilfe (OCHA), in einem Gespräch mit derStandard.at.
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derStandard.at: OCHA ist in Libyen sehr aktiv. Wie schätzen Sie die humanitäre Lage in dem Land ein, nachdem das Regime um Gaddafi gestürzt wurde?
Müller: Es gibt derzeit Prioritäten, die sichergestellt werden müssen. Das Land muss sich stabilisieren. Im humanitären Sinne ist es wichtig, dass die essenzielle Infrastruktur - die im Krieg teilweise zerstört wurde - wiederhergestellt wird, um die Bevölkerung mit Hilfsgütern versorgen zu können. Dazu kommt die Lage der Migranten, die das Land wegen der Kämpfe verlassen mussten. Ihnen muss geholfen werden. Es ist aber glücklicherweise keine breite humanitäre Katastrophe eingetreten.
derStandard.at: Es gibt immer wieder Meldungen, wonach Rebellen schwere Menschenrechtsverletzungen begehen. Wie sollen das unterbunden werden?
Müller: Eine neue Regierung in Libyen muss sich dafür einsetzen, dass die Menschenrechte für alle gelten. Die internationalen Normen müssen sofort umgesetzt werden.
derStandard.at: Der nationale Übergangsrat in Libyen fordert seine Kämpfer auf, diese Gewaltakte zu unterlassen. Trauen Sie den Aussagen?
Müller: Ich glaube, der Übergangsrat ist sehr darauf erpicht, international Glaubwürdigkeit zu erzielen. Dass es einzelne Vorkommnisse gibt, möchte ich aber nicht bezweifeln.
derStandard.at: Im Rahmen der UNSMIL-Mission der UN sollen nun zivile Mitarbeiter die Menschenrechtslage in Libyen beobachten und beim Aufbau demokratischer Strukturen helfen. Noch herrscht kein Frieden - wann soll die Mission starten?
Müller: Es sind bereits Leute vor Ort, um erste Planungsarbeiten durchzuführen. Wir werden sehr bald sehen, wie sich das in der Praxis umsetzen lässt.
derStandard.at: Die EU stand lange Zeit mit Battlegroups für einen humanitären Einsatz bereit. Es wurde aber stets darauf verwiesen, dass OCHA eine Anfrage für eine solche Mission stellen muss. Konnte die EU damit einem kontroversen Einsatz leichter entgehen?
Müller: Es ist sehr erfreulich, dass bei einem Libyen-Einsatz auf uns zurückgegriffen wird. Auf der Basis existierender internationaler Richtlinien zum Gebrauch militärischer Kräfte zur humanitären Hilfe haben wir spezifische Richtlinien für Libyen erstellt. Wir haben damals eng mit der EU zusammengearbeitet und gesagt: Wenn die Kriterien erfüllt sind, dann kann man durchaus auf militärische Unterstützung zurückgreifen. Das war aber eindeutig nicht der Fall. Ein militärischer Einsatz der EU war die letztmögliche Alternative, denn unsere humanitären Prinzipien - Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Neutralität - dürfen nicht verletzt werden. Zu diesem Punkt sind wir aber gar nicht gekommen, weil wir die Notwendigkeit für einen solchen Einsatz nicht gesehen haben.
derStandard.at: Konnten die Menschen in Libyen trotzdem ausreichend mit Hilfslieferungen versorgt werden?
Müller: Natürlich war der Zugang zur betroffenen Bevölkerung äußerst schwierig. Humanitäre Organisationen waren vor Ort, aber aufgrund der angespannten Sicherheitslage nur in beschränktem Ausmaß. In solchen Situationen stützen wir uns auf ein Netzwerk lokaler humanitärer Organisationen - in diesem Fall war das unter anderem der libysche Rote Halbmond - die die ersten Hilfslieferungen vornehmen. In der Libyen-Krise ist besonders die Situation der Flüchtlinge und Gastarbeiter eine Priorität. Schwerpunkte der humanitären Hilfe sind der Schutz der Zivilbevölkerung, die Einhaltung der Menschenrechte und der Regeln des internationalen humanitären Rechts, sowie Zugang zu adäquater Gesundheitsversorgung. In Gegenden, in denen nach wie vor Unruhen herrschen, ist die Versorgung mit Nahrungsmitteln ebenfalls von Vorrang.
derStandard.at: Wäre das nicht ein Argument für den Einsatz von Bodentruppen gewesen?
Müller: Es gibt einen humanitären Koordinator für Libyen. Wir haben permanent Rücksprache gehalten und sind zur Einsicht gekommen, dass der Einsatz von Bodentruppen nicht notwendig ist. Wir verlassen uns auf die Leute vor Ort.
derStandard.at: Immer wieder wurde das Argument gebracht, der Einsatz von Bodentruppen sei nicht durch die betreffende UN-Resolution gedeckt. Der Menschenrechtsjurist Manfred Nowak hat das anders gesehen und äußerte sich kritisch in Bezug auf das Warten der EU auf eine OCHA-Anfrage.
Müller: Für uns hat sich die Frage gestellt, ob es einen Bedarf gibt oder nicht. Nach den Rückmeldungen, die wir aus Libyen bekommen haben, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es zum damaligen Zeitpunkt keinen Bedarf gab.
derStandard.at: OCHA hat mit dem Gaddafi-Regime und mit den Rebellen zusammengearbeitet. Wie wurde damit umgegangen?
Müller: Es war natürlich eine sehr schwierige Situation. Wir mussten verlässliche Ansprechpartner auf beiden Seiten finden, der Zugang war nicht leicht. Der humanitäre Koordinator für Libyen führte Gespräche mit beiden Seiten, um Zugang zu den betroffenen Bevölkerungsgruppen zu verhandeln und somit deren Versorgung mit humanitären Hilfsgütern zu ermöglichen. (Fabian Graber, derStandard.at, 28.9.2011)