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Der türkische Regierungschef hat sich von einem Freund zu einem der größten Kritiker des syrischen Regimes gewandelt. Der Opposition des Nachbarlandes will er nun erlauben, in Istanbul eine Vertretung zu eröffnen. Die Grenze ist nach wie vor passierbar.

Foto: Reuters

Der türkische Premier hat eigene Sanktionen gegen Syrien angekündigt. Die Geschäftsleute in der boomenden anatolischen Millionenstadt Gaziantep sind überrascht von Erdogans Kurswechsel gegenüber Assad.

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Zwei Stunden sind es bis Aleppo: eine bis zur Grenze, noch eine bis in die alte syrische Handelsstadt, wo der Arabische Frühling eingefroren ist in einem blutigen, scheinbar endlosen Aufstand. Muhiddin Akçay fährt Taxi, für 35 türkische Lira - umgerechnet 15 Euro - bringt er Kunden von der einen in die andere Welt. Von Gaziantep, der boomenden Millionenstadt weit im Südosten der Türkei, auf die syrische Seite zu Bashar al-Assad, dem Präsidenten, der sein Volk bekämpft. "Assad wird gehen, aber wer weiß, wann. Die Menschen haben so viel Angst vor ihm" , sagt Akçay und ist sich doch sicher: "Er muss gehen. Die ganze Welt ist gegen ihn. Aber viele werden bis dahin sterben."

Akçays Pass ist vollgestempelt mit den Sichtvermerken der syrischen Grenzbeamten, die ihm jedes Mal eineinhalb Lira abknöpfen, ein lächerlich geringes Entgelt. "Ich habe sie gefragt: Warum macht ihr das?" , erzählt der Taxifahrer, ein hagerer Mann von 52 Jahren. "Wir haben Hunger" , haben sie ihm geantwortet.

Offene Grenze

Doch immerhin ist die Grenze nach wie vor offen, obwohl Tayyip Erdogan, der türkische Regierungschef, nun alle Brücken abgebrochen hat und Assad einen Lügner nennt - und obwohl Akçay, der Taxifahrer, im Zentrum von Hama, der Stadt der Opposition südlich von Aleppo, mit eigenen Augen die Panzer stehen sah. Es ist eine absurd anmutende Offenheit. Die Menschen in Gaziantep macht sie ratlos.

"Es ist nicht so leicht, erst ein Freund gewesen zu sein und jetzt auf Opposition umzuschalten" , sagt Necat Yüksel, ein Manager in der Naksan-Unternehmensgruppe in Gaziantep. Erdogans Kurs gegen Syrien, seine Wut über Assads Starrsinn erstaunt viele Türken. Noch ist ihnen die Rolle als Wortführer der arabischen Revolutionen ungewohnt. Zu viel Selbstvertrauen könne auch zur Dummheit werden, heißt es in Gaziantep, einer Stadt, die zum Symbol des neuen Wohlstands in Anatolien geworden ist: arbeitsam, aufstrebend, strategisch platziert für Exporte nach Irak, Iran, Syrien, Israel und in die Staaten am Golf.

Die Aufhebung des Visazwangs für das Nachbarland Syrien vor vier Jahren sei ein kluger Schritt gewesen, von dem die Industrie in Gaziantep profitiert habe, erklärt Yüksel, der Manager. Naksan, ein Verpackungshersteller, verkauft auch Garn in die Teppichknüpfereien in Syrien. Das Geschäft läuft nur noch schleppend, aber für Naksan ist der Schaden begrenzt. Syrien machte bisher fünf bis zehn Prozent des Umsatzes aus.

Andere Familienkonzerne in Gaziantep spüren weit mehr die Folgen der Revolte in Syrien. Um 50 bis 70Prozent sei der Handel in den letzten Wochen eingebrochen, berichtet Nazmi Özkoyuncu, ein Werbefachmann, der für viele der großen Unternehmen hier arbeitet. Die Altunkaya-Gruppe etwa, die weltweit Tee und Kaffee exportiert und zu einem der größten Lebensmittelhersteller der Türkei geworden ist, hat in Aleppo eine Produktionsstätte. Der Betrieb ist nun fast zum Erliegen gekommen. "Jeder ist besorgt, jeder wartet nun, was geschieht" , sagt Özkoyuncu.

"Vor dem Krieg" , so heißt es in Gaziantep, passierten jeden Tag tausend Autos und Busse die Grenze. Kleine Geschäftemacher, die in Taxis stiegen wie jenes von Muhiddin Akçay und in Syrien säckeweise Tee, Kaffee oder Gewürze kaufen, weil es um so vieles billiger ist, und die ihre Beute dann in der Türkei wieder verkaufen; wohlhabende Syrer, die im Sanko Park in Gaziantep, dem größten Einkaufszentrum von hier bis Beirut, ihr Geld lassen. Sie kommen weiterhin. "Ich sehe immer noch bekannte Gesichter" , sagt Burhan, ein Verkäufer bei Marks & Spencer. 2010 belief sich das Handelsvolumen zwischen der Türkei und Syrien auf 1,9 Milliarden Euro. Im gleichen Tempo ging es in diesem Jahr weiter, die türkische Außenhandelsstatistik meldete eine Milliarde Euro bis Juli.

Ankara glaubte lange, Assad würde den Ermunterungen zu politischen Reformen folgen. Jetzt aber kündigte Erdogan Sanktionen an. Der staatliche Raffineriebetreiber Tüpraº lud vergangene Woche zum vorerst letzten Mal Öl aus Syrien auf. Das Waffenembargo der Uno wird befolgt. Ein Frachter und eine Maschine aus dem Iran sind im Sommer schon von den türkischen Behörden gestoppt worden. Vor allem aber will die Türkei nun der syrischen Opposition gestatten, in Istanbul eine Vertretung zu eröffnen.

"Syrien ist eine Sackgasse" , sagt ein Händler, der im großen Stil Textilstoffe aus Fernost zur Weiterverarbeitung nach Syrien exportiert und seinen Namen nicht öffentlich machen will, weil er noch mit assadtreuen Geschäftsleuten zusammenarbeitet. Seine Ware liegt im Hafen von Latakia fest. Die Sanktionen der USA haben Bankgeschäfte mit den Syrern unmöglich gemacht. Mit dem Ende der einträglichen Zeit unter Assad hat er sich abgefunden: "Syrien kommt nicht mehr ins Lot, solange andere Länder nicht eingreifen und die Nato militärisch etwas unternimmt." (Markus Bernath aus Gaziantep/DER STANDARD, Printausgabe, 29.9.2011)