Zwei Reden, kein Vergleich - in Inhalt, Klarheit, Tonfall, Leidenschaft um Lichtjahre auseinander. Das gilt für die Erklärungen "Zur Lage der Union", die EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso bisher im Europäischen Parlament in Straßburg abgegeben hat.

Bei der Premiere dieser (vom US-Präsidenten abgeschauten) Übung im vergangenen Herbst geriet seine Bilanz noch zu einer routiniert abgelesenen Suada. Brav trug er die anstehenden Projekte der Gemeinschaft vor, ohne große Höhepunkte, unter Vermeidung von Konflikten mit den Regierungschefs der Nationalstaaten.

Diese hatten ihm seit Inkrafttreten des EU-Vertrags von Lissabon (der eigentlich eine Stärkung der Integration vorsieht) oft und oft demonstriert, wie sie europäische Führung verstehen: Alle Macht geht von den Chefs der nationalen Regierungen aus - genauer: von Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel. Die Kommission als Wahrerin der ausgeglichenen Interessen aller, vor allem der kleinen Länder und der "armen Verwandten" im Osten, habe sich im Zweifel ruhig zu verhalten; so wie das Europäische Parlament und nationale Parlamente, die im Zweifel umgangen werden.

Die völlig legitime Frage, wo dann die Bürgerdemokratie im Unionseuropa - aus historischen Gründen ohnehin schwach ausgeprägt - in Zukunft bleibe, wurde dabei lange verdrängt. Barrosos Zurückhaltung war damals in gewisser Weise verständlich. Er hatte den exzessiv überschuldeten Südländern wenig zu bieten. Diese mussten hoffen, dass das blendende Wachstum im Norden, allen voran Deutschland, die Finanzhilfen garantieren und den EU-Laden einigermaßen zusammenhalten würden.

Ein Jahr später sieht die Welt völlig anders aus, hat sich das Bild total gewandelt. Das Wachstum ist stark abgekühlt. Plötzlich wird quer durch Europa (auch in Regierungen) sogar der Ausschluss einzelner Länder aus der Gemeinschaft ins Kalkül gezogen; wird überlegt und von vielen Bürgern ernsthaft diskutiert, ob man ganze Völker wie die Griechen einfach fallenlassen soll. Für die Union, für Europa, geht es ums Ganze. Ein Zerfall, auf den populistische, vor allem rechte Splittergruppen bauen (die ganze Regierungen vor sich hertreiben), gilt plötzlich nicht mehr als ausgeschlossen. Das weiß Barroso auch. Kein Zufall, dass er zum Kampf um Europas Zukunft aufgerufen hat. Es klang auch ein wenig wie ein fast verzweifelter Appell. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29.9.2011)