Gerald Gartlehner organisiert eine Konferenz in Krems, die den gesamten Spannungsbereich von Krebsfrüherkennung abbildet.

Gerald Gartlehner ist Mediziner und arbeitet als Klinischer Epidemiologe an der Donau-Universität Krems. Seine Forschungsschwerpunkte: evidenzbasierte Medizin, Effektivitätsbewertung von Arzenimitteln, systemische Übersichten und Meta-Analysen.

Foto: Standard/Matthias Cremer

Krebs macht Angst. Bei Krebsfrüherkennungsuntersuchungen sollten aber rationale Überlegungen dominieren, sagt der Wissenschafter Gerald Gartlehner. Mit Karin Pollack sprach er über sein aktuelles Aufklärungsprojekt.

Standard: Krebs früh erkennen und besser heilen zu können: Das ist die Message vieler Ärzte. Was halten Sie von Aufrufen, regelmäßig an solchen als Vorsorgemaßnahmen titulierten Untersuchungen teilzunehmen?

Gartlehner: Krebsfrüherkennung kann Sinn machen, es kann aber auch Sinn machen, daran bewusst nicht teilzunehmen. Das grundlegende Problem in Fragen von Krebsfrüherkennung ist die massive Unsicherheit, die Krebs bei den Menschen auslöst. Sie haben Angst vor Krebs, und Ärzte gehören da auch dazu. Entscheidungen werden also nicht nach rationalen Grundsätzen getroffen, sondern sind durch Emotionen gesteuert. Das ist der Grund, warum Krebsfrüherkennung für viele eine ganz klare Sache zu sein scheint. Ab 40 soll man zur Prostatauntersuchung, Frauen zur Mammografie. Sogar die Krebshilfe schreibt in ihren Broschüren Informationen, die alle nicht evidenzbasiert sind.

Standard: Inwiefern?

Gartlehner: Jedes Krebsscreening hat immer einen Nutzen, aber auch einen Schaden. Das steht ganz außer Frage und lässt sich mit einer Vielzahl von aus Studien gewonnenen Daten - evidenzbasiert eben - beweisen. Der Preis beim Prostatakrebsscreening sind viele unnotwendige Operationen. Wenn ein Tumor gefunden wird, wird meist operiert. Doch möglicherweise gehen Inkontinenz und Impotenz als Nebenwirkung der Operation einher, obwohl der Tumor vielleicht nie Probleme bereitet hätte. Solche Zusammenhänge werden selten kommuniziert, dabei sind sie für individuelle Entscheidungen enorm wichtig.

Standard: Wäre es nicht die Aufgabe von Ärzten?

Gartlehner: Nicht nur die Ärzte, auch die Politik nimmt evidenz-basierte Daten nicht besonders ernst. Es gibt zum Beispiel keine öffentlich finanzierte Stelle in Österreich, die objektive Patienteninformation vornimmt. So bleibt das gesamte Feld verschiedenen Interessengruppen oder eben der Industrie überlassen. Und das ist auch der Grund, warum in Österreich mit Ganzkörperscreenings, für die jede Evidenz fehlt, Millionen Euro im Jahr verdient werden. Gesunde Menschen, die Angst vor Krebs haben, finanzieren so Privatspitäler.

Standard: Informieren Ärzte Patienten falsch?

Gartlehner: Es gab eine Umfrage unter deutschen Gynäkologen zur Mammografie. Bei der Frage: Wenn eine Frau mit positivem Mammografie-Befund fragt: "Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich wirklich Brustkrebs habe?", antworteten 90 Prozent der Gynäkologen falsch. Die meisten überschätzten die Wahrscheinlichkeit, dass ein positives Mammogramm wirklich Krebs bedeutet, um ein Vielfaches. Sie liegt nämlich nur bei zehn Prozent. Über die vielen falsch-positiven Befunde, die bei Screenings normal sind, wissen auch die wenigsten Ärzte Bescheid.

Standard: Wie lässt sich das ändern?

Garlehner: Wir wollen auf dem Gebiet dieser Screening-Programme Aufklärungsarbeit leisten. EUFEP ist eine Plattform, an der Wissenschafter, Mediziner und Entscheidungsträger mit Bürgern und Bürgerinnen gemeinsam Erfahrungen austauschen. Krebsscreening ist eine komplexe Materie, das Ziel ist es aber gerade, hier Orientierung zu bieten. In einer Studie des Max-Planck-Instituts, die den Nutzen von Screenings abgefragt hat, überschätzen 95 Prozent aller Frauen den Nutzen einer Mammografie um ein Vielfaches. Es gibt enorme Wissensdefizite beim Krebsscreening.

Standard: Es gibt aber keine Eindeutigkeiten im Screening, oder?

Gartlehner: In der Krebsprävention gibt es zuwiderlaufende Meinungen. Nur wer sie kennt, wird für sich selbst Stellung beziehen können. Wir haben Vortragende mit kontroversiellen Standpunkten eingeladen, bilden also den gesamten Spannungsbereich ab.

Standard: Apropos Krebsprävention: Können auch Fragen des Lifestyle evidenzbasiert untersucht werden?

Gartlehner: Bewegung, gesunde Ernährung weniger Übergewicht, weniger Rauchen: Das sind zweifellos Maßnahmen zur Krebsprävention. Doch wissenschaftlich harte Daten über die Auswirkung gesunder Lebensführung sind relativ dünn. Hier greift man darauf zurück, aus populationsbezogenen Studien Daten hochzurechnen. Für relevante Ergebnisse müssen die Beobachtungszeiträume aber sehr lang sein.

Standard: Gibt es tatsächlich auch bestimmte Lebensmittel, die das Krebsrisiko senken?

Gartlehner: Meldungen darüber, dass bestimmte Lebensmittel präventiv gegen Krebs wirken, sind meist Zufallsprodukte aus großen Datensätzen, der Wahrheitsgehalt ist aber minimal. (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 03.10.2011)