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Premierminister Jens Stoltenberg bei einer Trauerfeier für die Opfer der Attentate in Oslo.

Foto: EPA/JOERG CARSTENSEN

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Den Chef der sozialdemokratischen Jugendbewegung Eskil Pedersen umarmte der Premier.

Foto: REUTERS/Truls Brekke

Der norwegische Premier Jens Stoltenberg im Gespräch mit Hans Rauscher über das Attentat vom 22. Juli, über die richtige Antwort auf rechtsextremen Terror und die multikulturelle Gesellschaft als Faktum.

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Standard: Herr Premierminister, wie haben Sie den 22. Juli erlebt?

Stoltenberg: Zum Zeitpunkt des Bombenanschlags war ich hier in der Residenz und arbeitete an meiner Rede, die ich am nächsten Tag im Jugendlager in Utoya halten sollte, als ich aus der Ferne einen lauten Knall hörte. Ich wusste nicht, was es war. Sekunden später rief mich ein Mitarbeiter aus der Regierungszentrale an und fragte, ob ich verwundet sei. Ich erkannte nicht wirklich, wie ernst es war, bis er mit blutigem Kopf und Kleidern hier in der Residenz erschien. Da erkannte ich auch, dass ich ein Ziel gewesen sein musste. Ich fühlte mich trotzdem sicher. Es ist nicht meine Natur, mich die ganze Zeit unsicher zu fühlen. Dann kam die Nachricht von der Attacke in Utoya. Da war ein sehr starkes emotionales Gefühl, dass wir angegriffen werden. Die Regierung hat sofort funktioniert, Minuten nach der Bombe, wir begannen uns in diesem Gebäude zu organisieren. Ich kannte eine Menge Leute auf Utoya, und sie riefen mich auf meinem Mobiltelefon an! Während das Massaker vor sich ging! Zum Beispiel der Vorsitzende der Jungsozialisten, er rief von einem Boot an, mit dem er von Utoya flüchtete.

Standard: Dachten Sie anfangs an Islamisten als Täter?

Stoltenberg: Als Breivik um sechs Uhr abends verhaftet wurde, wussten wir, dass es eine weiße Person von ethnisch norwegischer Herkunft war. Aber nach der Bombenexplosion um 15:26 Uhr wussten wir nicht, wie das norwegische Volk reagieren würde, wenn das ein islamistischer Terroranschlag wäre. Ich hoffe, dass wir in derselben Art reagiert hätten, wenn es so gewesen wäre. Und das unterstreicht, dass wir immer an unserer eigenen Haltung arbeiten müssen. Denn eine der wichtigsten Lehren des 22. Juli ist, dass man niemals eine ganze Gruppe dafür verantwortlich machen kann, was eine einzige Person tut. Es ist immer die Person, die verantwortlich ist für ihre eigenen verbrecherischen Taten. Das war ein weißer männlicher Norweger aus einem wohlhabenden Teil Oslos, niemand glaubte, dass solche Leute potenzielle Terroristen sein können. Und er war ein Christ, er verwendete die christliche Religion als ein "Argument" für seine Taten. Das ist ein Missbrauch der christlichen Religion, ebenso wie es ein Missbrauch des Islam wäre.

Standard: Ihre Reaktion war verschieden von anderen Reaktionen auf Terroranschläge. Sie sagten, die Antwort wäre noch mehr Demokratie, noch mehr Offenheit, noch mehr Dialog, aber keine Naivität. Politikern in anderen europäischen Ländern fallen als Erstes nur mehr Polizei, schärfere Gesetze, mehr Repression ein.

Stoltenberg: Das Hauptziel des Terrorismus ist, die offene, demokratische Gesellschaft anzugreifen und sie weniger offen und demokratisch zu machen. Die richtige Antwort ist daher, das Gegenteil zu machen. Sein Ziel ist, die offene, demokratische Gesellschaft zu zerstören. Unsere Antwort ist, sie noch offener und demokratischer zu machen. Es ist absolut möglich, mehr Toleranz mit besserer Sicherheit zu verbinden. Ich sagte, wir dürfen aber auch nicht naiv sein. Daher müssen wir selbstverständlich Diskussionen über Sicherheitsmaßnahmen haben. Aber die Hauptantwort ist, wir wollen ein Land bleiben, in dem der Abstand zwischen den Politikern und dem Volk klein ist.

Standard: Ist Norwegen nicht zu vertrauensvoll gewesen?

Stoltenberg: Nein, wir haben in den letzten Jahren die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt. Als ich 2000 erstmals Premierminister wurde, hatte ich keine Leibwächter, außer bei offiziellen Anlässen oder im Ausland. Seither hat sich einiges geändert, aber auch Länder mit viel schärferen Sicherheitsmaßnahmen waren nicht geschützt vor Terrorismus.

Standard: Aus Terroristenfurcht werden die Bürgerrechte praktisch überall eingeschränkt. Sie sagen dazu nein, werden wir offener. Ist das eine christliche Motivation oder eine sozialdemokratische oder eine skandinavische?

Stoltenberg: Ich glaube daran, als Mensch und als Sozialdemokrat, aber es ist eine sehr norwegische Einstellung. Norwegen ist ein Land, wo wir Offenheit schätzen, wo wir einander vertrauen und wo der Abstand zwischen Politikern und den Bürgern sehr klein ist. Die Norweger haben Vertrauen in den Staat, wir vertrauen einander. In manchen ländlichen Gebieten werden die Türen noch immer nicht abgesperrt.

Standard: Haben die Norweger nichts von diesem Vertrauen verloren?

Stoltenberg: Ich denke, es gibt ein Norwegen vor und eines nach dem 22. Juli 2011. In diesem Sinne haben wir uns verändert. Die böse und grausame Gewalt, die wir gesehen haben. Gleichzeitig hoffe ich, dass Norwegen ein offene und demokratische Gesellschaft bleiben wird und dass wir noch toleranter werden. Ich glaube, dass viele Norweger zunächst dachten, das ist ein islamistischer Terrorist gewesen, aber sie sahen dann, dass es tatsächlich ein weißer Norweger war, der seine christliche Ideologie als Vorwand für Gewalt nahm. Diese Menschen wurden mit ihren eigenen Vorurteilen konfrontiert. Das war auf eine gewisse Weise positiv. Denn es erhöhte ihr Bewusstsein, dass es nicht Gruppen sind, die terroristische Akte verüben, sondern Individuen, die weiß oder braun oder schwarz sind.

Standard: Sagen Sie damit, dass Breivik nur ein einsamer Psychopath war und nicht Teil einer Ideologie ?

Stoltenberg: Was er war oder was er nicht war, da werde ich nicht zu voreiligen Schlüssen kommen - außer dem, was er selbst gesagt hat: dass er die sozialdemokratische Jugendorganisation und die Regierung angreifen wollte. Die Details - da werde ich auf die Ergebnisse der Untersuchung warten.

Standard: Aber die Bevölkerung sieht die Immigration noch immer als Problem.

Stoltenberg: Ich verteidige das Recht des Volkes, starke und in manchen Fällen extreme Ansichten zu haben. Aber es gibt einen riesigen Unterschied zwischen extremen Ansichten und extremen Taten. Wir müssen Ansichten akzeptieren, die sehr verschieden sind von unseren. Das ist Teil der Demokratie. Nicht akzeptieren kann ich Gewalt.

Standard: Haben Sie Angst, dass die Untersuchungskommission über den Anschlag peinliche Fakten ans Licht bringen wird?

Stoltenberg: Nein, weil ich es begrüße, dass wir eine sehr offene, unsentimentale Evaluierung der Reaktion der Polizei haben werden. Aber keine Gesellschaft kann sich gegen solche Taten komplett wehren. Auch mit erhöhter Polizeipräsenz kann man Jugendlager oder Festivals nicht 100-prozentig schützen. Gegen einen einsamen Wolf, der keine Organisation hinter sich hat, gibt es keinen 100-prozentigen Schutz.

Standard: Breivik war eine Zeitlang Mitglied der rechten Fortschrittspartei. Diese Partei ist nur eine von vielen rechtspopulistischen oder extrem rechten Parteien in Europa, die zuletzt erfolgreich waren. Gibt es eine politische Medizin gegen dieses Phänomen?

Stoltenberg: Wir müssen zunächst unterscheiden zwischen den verschiedenen rechten Parteien in Europa. Es ist gefährlich, sie alle in einen Topf zu werfen. Zweitens: Alle diese Parteien arbeiten innerhalb des demokratischen Systems. Wenn sie die demokratischen Regeln befolgen und keine Gewalt gebrauchen, dann wäre es ganz falsch, sie mit Breivik zu verwechseln. Was die politische Debatte mit diesen nationalistischen Parteien betrifft - Europa ist bereits eine multikulturelle Gesellschaft. Die Frage ist nur, wie wir diese Gesellschaft managen.

Standard: Angela Merkel sagte, Multikulturalismus ist tot.

Stoltenberg: Es kommt darauf an, was man mit dem Begriff meint. Europa und Norwegen sind multikulturelle Gesellschaften, insofern als viele Mitglieder anderer Kulturen hier leben. Ob wir das mögen oder nicht, das ist ein Faktum. Wir akzeptieren verschiedene Kulturen, aber wir akzeptieren nicht, dass Leute ihre Kultur dazu benutzen, um unsere Grundwerte infrage zu stellen: Menschenrechte, Demokratie, die Rechte der Frauen, Meinungsfreiheit, Rechtsstaat. Das gilt für alle. Man kann nicht eine Religion benutzen, um Frauen zu diskriminieren.

Standard: Haben die sozialdemokratischen Parteien diese Tendenzen der muslimischen Gesellschaften nicht zu lange ignoriert?

Stoltenberg: In Norwegen haben wir das nicht getan. Wir haben gesagt, ihr müsst Norwegisch lernen, es darf keine Zwangsheiraten geben, ihr könnt keine Sozialleistungen ohne Gegenleistung beziehen. So haben wir zwei nationale Wahlen gewonnen.

Standard: Was war der schwierigste Moment in dieser Situation?

Stoltenberg: Da waren hunderte Menschen, die hatten gerade die Liste jener erhalten, die im Spital waren. Und wenn der Name eines Kindes nicht auf der Liste war, dann war es fast sicher, dass es tot ist. Ich ging von einem zu anderen. Es tröstete mich, Trost zu geben. Aber diese Solidarität, die ich in diesen Tagen gesehen habe, machte mich stolz auf Norwegen. Es wird Teil unserer Geschichte sein. Es mobilisierte etwas Gutes in der norwegischen Gesellschaft, es machte uns toleranter, bewusster unserer eigenen Tragödien, und es mobilisierte ein sehr starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Es wird Teil unserer Identität sein. (Das Gespräch führte Hans Rauscher. STANDARD-Printausgabe, 1./2.10.2011)