Die Hierarchie im Hohen Haus steht Kopf: Plötzlich gibt die Opposition, im parlamentarischen Alltag gegängelt und gedemütigt, den Ton an. Wochenlang haben sich die Regierungsparteien gewunden, Ausweichmanöver geprobt, Schadensbegrenzung versucht - vergeblich. Als Letzter musste schließlich SPÖ-Klubobmann Josef Cap einlenken. Neben den Hocheggers und Meischbergers wird sich der unvermeidbare Untersuchungsausschuss nun auch Kanzler Werner Faymann und seine in Inserate verpackte Liebdienerei an den Boulevard vornehmen - und alle anderen werbewütigen Minister gleich dazu.

SPÖ und ÖVP blieb keine andere Wahl. Handlungsschwäche, Anspruchslosigkeit und zuletzt die aufgeflogenen Skandale haben den Ruf der herrschenden Kaste so weit ramponiert, dass sich die Protagonisten die üblichen Mätzchen und Tricksereien nicht mehr leisten konnten. Manche Bedenken gegen einen "Kraut und Rüben"-Ausschuss, der ein wirres Sammelsurium an Themen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag breitwalzt, mögen sachlich berechtigt sein, doch das Publikum hat für derartige Spitzfindigkeiten die Geduld verloren. Vom Gefeilsche um Gegenstand und Dauer der Aufklärungsarbeit blieb in der Öffentlichkeit nur eine Botschaft übrig: Die Packler der großen Koalition sind wieder einmal am Vertuschen.

Endlich scheint Rot und Schwarz zu dämmern, wie verheerend dieses Spiegelbild ist. Der unlimitierte U-Ausschuss, der außer den Grünen allen Parlamentsparteien wehtun könnte, ist ein überfälliger Befreiungsschlag, um Glaubwürdigkeit zurückzuerobern - und dennoch nur ein Anfang. Vergangenheitsbewältigung allein wird den notwendigen Selbstreinigungsprozess nicht auslösen. Dafür gilt es, jene "Einfallstore in die Korruption" (Ex-Rechnungshofpräsident Franz Fiedler) zu schließen, die hierzulande sperrangelweit offen stehen.

Die aktuelle Regierung hat diese Tore bislang nicht verriegelt, sondern sogar weiter aufgerissen. Er werde für schwarz-blaue Skandale nicht den Kopf hinhalten, beklagte sich Cap unlängst im ORF. Doch der Sozialdemokrat vergisst, dass es "seine" Koalition war, die Praktiken, wie sie nun am Pranger stehen, begünstigt hat. Vor zwei Jahren hebelte Rot-Schwarz das geltende Antikorruptionsgesetz aus. Seither dürfen sich Amtsträger wieder de facto straflos mit Geld und Geschenken umschmeicheln lassen.

Wegschauen ist auf allen Ebenen Trumpf. Weder müssen Abgeordnete ihre Nebeneinkünfte verraten noch Parteien sämtliche empfangene Spenden. Die vorhandenen Regelungen sind löchrig und degradieren die kontrollierenden Organe zum Salzamt. All das lädt zur Korruption ein.

Erfreulicherweise verhandeln die Parteien mittlerweile über ein Transparenzpaket, das die klaffenden Lücken schließen soll. Meint es die Regierung mit ihren Plänen ernst, werden sich sie und ihre Nachfolgerinnen schärfere Kontrolle und eine lästigere Opposition einhandeln, aber auch den einen oder anderen Anlassfall für einen quälenden Untersuchungsausschuss ersparen.

Scheitern ist keine Option. Angesichts ihrer bescheidenen Reputation ist die glaubwürdige Bekämpfung der Unsitten für die Koalition eine Überlebensfrage. Denn auch wenn so mancher aktuelle Skandal nicht im rot-schwarzen, sondern im blau-orangen Dunstkreis angesiedelt ist: Volkszorn ist oft farbenblind und entlädt sich am heftigsten über den Regierenden. (DER STANDARD, Printausgabe, 1./2.10.2011)