Die Grundthese des neuen Atheismus (= NA) könnte man ungefähr so zusammenfassen: "Religion bzw. der Glaube an Gott ist vor dem Hintergrund unseres modernen, naturwissenschaftlichen Weltbildes irrational und schädlich. Der Glaube an Gott macht unmenschlich. Gläubige sind intellektuell und moralisch minderwertig, eigentlich geisteskrank. Eine atheistische Gesellschaft wäre eine gesündere, vernünftigere und auch friedlichere Gesellschaft. Deshalb muss man den Einfluss institutionalisierter Religion im Namen der Menschlichkeit bekämpfen."
Der NA ist im Begriff, zu einem auch politisch und kulturell wirksamen Religionsersatz zu werden und scheint mir in mancherlei Hinsicht ein Komplementärphänomen zu sein. Je mehr sich etwa ein fundamentalistisches Missverständnis von Religion durchsetzt, desto einleuchtender wirkt auch die Position des NA.
Ich möchte im Folgenden die These zur Diskussion stellen, dass der NA selber das Opfer von mindestens zwei grundlegenden Missverständnissen ist. Es geht um ein ethisches und ein theologisches Missverständnis.
Das ethische Missverständnis
Der NA versteht sich selbst als eine emanzipatorische Bewegung in der Tradition der Aufklärung. Er verkündet eine frohe Botschaft, sozusagen das Evangelium nach Richard Dawkins: "Sorge Dich nicht und genieße Dein Leben, es gibt wahrscheinlich keinen Gott!" Man könnte das als eine Ermutigung zu hedonistischer Beliebigkeit verstehen. Aber das Anliegen ist wohl nicht ganz so oberflächlich. Religiös begründete Moral ist unheilvoll. Und der NA bringt die neue, aufgeklärte Moral, weil er Schluss macht mit religiösen Ammenmärchen und Ängsten.
Ich gebe gerne zu, dass man Moral nicht im strengen Sinne "glauben" kann. Moralische Normen können nämlich nicht Inhalt einer göttlichen Offenbarung sein, wenn Offenbarung ausschließlich in der Selbstmitteilung Gottes an sein Geschöpf besteht. Ethik ist stets Sache der argumentierenden Vernunft. Gerade darauf bezieht sich ja etwa die katholische Rede vom "natürlichen Sittengesetz".
Naturalistisches Weltbild
Die Frage ist jedoch, ob der NA mit seinem naturalistischen Welt- und Menschenbild überhaupt das Phänomen einer kritischen Moral begreifen kann. Die meisten neuen Atheisten sind auch Naturalisten. Ein Naturalist ist jemand, der daran glaubt, dass nur das wirklich ist, was sich naturwissenschaftlich und letztlich physikalisch beschreiben lässt. Im naturalistischen Weltbild gibt es aber keine moralischen Werte oder Normen. "Gut" und "böse" sind ja keine Tatsachen, keine Bestandteile der empirischen Welt. Es wird auch sinnlos, etwa von "Menschenwürde" oder "Verantwortung" zu sprechen; sogar so grundlegende Begriffe wie "Wille", "Vernunft" und "Wahrheit" können nur mehr metaphorisch verstanden werden, weil der Mensch als einsichts- und verantwortungsfähiges Subjekt nicht naturalistisch beschrieben werden kann. Im Grunde ist auch der Mensch nur ein komplexer Haufen von Elementarteilchen, also ein bloßes Objekt. Alles andere ist Illusion, bestenfalls Poesie.
Evolutionsbiologischen Begründungen
Neue Atheisten kokettieren häufig mit evolutionsbiologischen Begründungen einer humanistischen Ethik. Freundlich-angepasste Menschen haben größere Chancen sich fortzupflanzen. Doch warum sollte das maßgeblich sein? Und ist das überhaupt wahr? In einem solchen Denken vermischt man Sein und Sollen, biologische Regelmäßigkeiten und normative Geltung. Und man kann gar nicht begreifen, was es bedeutet, unter dem Anspruch zu stehen, sich immer und in jedem Fall menschlich und nicht unmenschlich zu verhalten. Man möchte eine unbedingte Moral als lebensfeindlich brandmarken; und kommt am Ende zu einer Sicht, in der man in einer selbstwidersprüchlichen Weise das Ethische überhaupt auflöst.
Der letzte Mensch
Karl Rahner hatte einmal gemeint, dass der Mensch, wenn er die Frage nach Gott vergisst, sich zurückkreuzen werde zu einem "findigen Tier". Das ist eine vielleicht irreführende These. Sie trifft aber zu, wenn man darunter versteht, dass der Mensch vergisst oder verdrängt, dass sich menschliches Leben im Horizont unbedingter Wahrheit und Verantwortung ereignen soll. Wenn dies der Fall ist, tritt der von Nietzsche so eindrucksvoll beschriebene "letzte Mensch" auf die Bühne: "Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?" - so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. »Wir haben das Glück erfunden«- sagen die letzten Menschen und blinzeln." Nietzsche war wohl hellsichtiger als viele der neuen Atheisten.
Mit all dem soll natürlich keineswegs bestritten werden, dass Atheisten wahrhaft menschlich handeln können. Aber die Begründung eines ethischen Humanismus aus neo-atheistischen bzw. naturalistischen Voraussetzungen scheint mehr als problematisch zu sein.
Das theologische Missverständnis
Neue Atheisten lehnen für gewöhnlich immer nur extrem primitive Karikaturen von Gott ab; und das natürlich dann mit vollem Recht. Der Fehler besteht darin, sich Gott als ein begreifbares Stück Welt vorzustellen. Für die meisten Atheisten ist Gott, ähnlich wie für religiöse Fundamentalisten, irgendein "höheres Wesen", das in Wechselwirkung mit der übrigen Welt steht und somit ein Systembestandteil wäre. Einen solchen "Gott" anzunehmen wäre eine Form von Weltvergötterung, also etwas, das man aus christlicher Perspektive als Sünde bezeichnen müsste.
Das christliche Gottesverständnis ist ein ganz anderes, nämlich eines jenseits von Theismus und Atheismus. Die gesamte biblisch-christliche Tradition hat immer behauptet, dass Gott nicht unter unsere Begriffe fällt. Gott ist kein objektivierbares Seiendes neben anderen Seienden, sondern unvergleichlich anders. Nicht umsonst wurden die ersten Christen von ihrer Umwelt als Atheisten bezeichnet. Die Unbegreiflichkeit Gottes bedeutet auch, dass wir keinen Gottesbegriff haben können, der sich als Ausgangspunkt oder Ergebnis von Schlussfolgerungen eignen würde. Man kann nichts in der Welt mit Gott "erklären"; auch nicht das Leid in der Welt. Deshalb müssen auch alle sog. „Gottesbeweise" scheitern.
Wenn Gott aber unbegreiflich sein soll, wie kann man dann noch von ihm reden? Leider wird diese Frage auch von Theologinnen häufig verdrängt - sehr zum Schaden für die Glaubensverkündigung. Denn dann kann man nur mehr in einer äußerst verwirrenden Art und Weise von Gott sprechen.
Die christliche Botschaft antwortet auf dieses Problem, indem sie darauf aufmerksam macht, dass die Welt zutiefst Schöpfung Gottes ist. Diese Rede kann leicht missverstanden werden ("Urknall"). Eigentlich bedeutet sie: Alles, was existiert, geht völlig darin auf, ohne Gott nicht sein zu können. Das Sein und das "Geschaffensein" der Welt ist ein und dasselbe. Die Welt ist in sich selbst Hinweis, Relation auf Gott; und nicht etwas, das sich gewissermaßen erst nachträglich auf Gott beziehen würde. Deshalb kann man von Gott auch nur hinweisend, indirekt sprechen; und nicht so, als ob er unter Begriffe fiele. Die "Geschöpflichkeit" der Welt bedeutet also recht verstanden, dass man von Gott immer nur das von ihm Verschiedene begreift, dass jedoch ohne ihn überhaupt nicht sein kann und sich völlig auf ihn bezieht.
Die Struktur einer Einheit von Gegensätzen
Die so verstandene Geschöpflichkeit der Welt steht in keinem Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Welterklärungsmodellen, sondern umfasst sie alle. Sie wird daraus erkannt, dass alles in der Welt die Struktur einer Einheit von Gegensätzen hat, letztlich die Struktur einer Einheit von Positivität und Negativität. Eine solche Einheit von Gegensätzen kann man widerspruchsfrei nur so aussagen, dass man die Welt als geschöpflich im obigen Sinn, nämlich als total auf Gott bezogen (= Positivität) und gleichzeitig als total von Gott verschieden (= Negativität) versteht.
Der Glaube beginnt erst dann, wenn es um unsere Gemeinschaft mit diesem Gott gehen soll, die man aber nicht an der Welt selbst ablesen kann. Die Vernunft kann Gott ja nur als abwesend und verborgen erkennen. Erst die christliche Botschaft kann auf das - alle Religion in Frage stellende - Problem eine Antwort geben, wie angesichts der Transzendenz Gottes dennoch eine Beziehung Gottes zur Welt aussagbar ist. Das "Wort Gottes" legitimiert sich in seinem Anspruch durch seinen eigenen Inhalt. Nur in einem trinitarischen Verständnis kann man sinnvoll von Gemeinschaft mit Gott sprechen: Gott ist schon immer der ganzen Welt mit der Liebe zugewandt, die von Ewigkeit her als Liebe zwischen Gott ("Vater") und Gott ("Sohn") besteht, und selber Gott ist ("Heiliger Geist"). Dies wird uns von Jesus her als unsere eigentliche, tiefste Wirklichkeit zugesagt. Glaube ist somit das Anteilhaben am Verhältnis Jesu zu Gott, das berechtigte Vertrauen auf ein letztes, unbedingtes Geborgensein. Und dieses geschenkte Vertrauen, das rational weder begründet noch widerlegt werden kann, lässt den Menschen anders als aus der in seiner Todesverfallenheit wurzelnden Angst um sich selbst handeln und befreit ihn so zu wahrer Menschlichkeit und Vernunft: Gott macht menschlich. Diese Aussage steht im diametralen Gegensatz zur Auffassung des NA.
Der NA scheint also von vornherein nicht das christliche Gottes- und Glaubensverständnis zu treffen. Den Gott, den etwa Richard Dawkins ablehnt, kann man vernünftigerweise nur ablehnen. Obwohl der NA letztlich nur einem theologischen Missverständnis zum Opfer fällt, erfüllt er aber trotzdem eine durchaus positive Funktion. Er erinnert die Christen und Christinnen daran, dass sie selber immer wieder unheilvollen theologischen Missverständnissen zum Opfer fallen. (Leser-Kommentar, Robert Deinhammer, derStandard.at, 5.10.2011)