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Noch hat bei der siebenten Rugby-Weltmeisterschaft in Neuseeland niemand wirklich seine Schäfchen im Trockenen. Doch immerhin: die Vorrunde ist gespielt und es wird am kommenden Wochenende ein Viertelfinale geben. Acht Teams aus dem 20 Teilnehmer umfassenden Starterfeld haben also noch Hoffnungen. Die gastgebenden All Blacks, Titelverteidiger Südafrika, Australien, England, Frankreich, Irland, Wales und Argentinien überlebten nach 40 Gruppenspielen, die von rund 1,1 Millionen Zuschauern besucht wurden. Kaum eine Augenbraue wird darob hochgezogen werden, handelt es sich hierbei ja doch wieder um das Establishment, die Top-8 der Weltrangliste. Manche der kleinen Fische haben brav geschwanzelt - Tonga muss, Samoa, Georgien oder Kanada könnten hier genannt werden - für das Verschlucken eines Großen reichte es am Ende aber doch nicht. Irlands Sieg über Australien und der darauf gegründete Platz eins in Gruppe C hat den erwarteten Ablauf des Turniers aber doch profund verändert. Aufgrund er Auslosung ist nun garantiert, dass im Finale ein Vertreter der nördlichen Hemisphäre auf einen aus der Südhalbkugel treffen wird. Und das ist schließlich die klassische Konfrontation des Weltrugby, ganze Philosophien hängen daran. Ach ja, die Paarungen en detail: Südafria vs Australien, England vs Frankreich, Irland vs Wales, Neuseeland vs Argentinien.

Foto: dapd/Pisarenko

Auch wenn das Viertelfinale einiges an Brisanz zu bieten hat, Südafrikas Match mit Australien ragt noch heraus. Immerhin trifft hier der Titelverteidiger auf den Gewinner des Tri-Nations-Turniers, in dem Wallabies, Springboks und All Blacks alljährlich aneinandergeraten (und das künftighin um Argentinien erweitert werden wird). Vor dem Turnier als über ihrem Zenit befindlich abgeschrieben, marschierte die Mannschaft von Trainer Pieter de Villiers mit vier Siegen durch Gruppe D, die vermutlich härteste von allen. Gegen Wales und Samoa war es zwar knapp, die Springboks haben sich nach ihren Durchhängern 2010 und 2011 aber sichtlich konsolidiert. 18 Mann aus dem Weltmeisterteam von 2007 stehen noch im Kader, an Erfahrung wird es also nicht fehlen. Kapitän John Smit sieht seine Mannschaft trotzdem weiter als Underdog - und es gibt auch durchaus Gründe für diese psychologisch wertvolle Einschätzung. Südafrika konnte von den letzten sechs Vergleichen mit Australien nur einen für sich entscheiden, beide Partien in den Tri Nations gingen verloren. 2010 wurden die Springboks auf eigenem Feld geschlagen, zum ersten Mal in beinahe 50 Jahren. Der medizinische Stab hat sich um die etatmäßigen Flügel JP Pietersen und Bryan Habana zu kümmern, Back Frans Steyn musste nach einer Schulterverletzung bereits die Heimreise antreten. Südafrika fehlt damit ein verlässlicher Kicker. Trotzdem. Niemand kann die orthodoxen Elemente des Spiels so gut wie diese Herren.

Halbfinalchance: 51 Prozent

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Australien surfte auf der Welle eines Sieges über Neuseeland ins Turnier, dann aber wurde man von den Iren beim 6:15 an die eigene Sterblichkeit erinnert und auch der programmierte Gruppensieg ging flöten. Auch wenn in den verbliebenen Pool-Spielen mit den USA und Russland nicht gerade die Crème de la Crème der Rugbywelt zu verspeisen war, die Wallabies befinden sich deshalb schon seit einiger Zeit im Knockout-Mode. Im offenen Spiel könnte der zweifache Weltmeister mit seiner starken Hintermannschaft im Vergleich mit Südafrika Vorteile haben, hilfreich ist diesbezüglich zweifellos die Genesung von Digby Ioane. Der könnte mit seiner Schnelligkeit für Musik über die Flügel sorgen und in Partnerschaft mit Fullback Kurtley Beale die Springbok-Verteidigung anbohren. Gegen eines der traditionell standhaftesten Bollwerke der Szene, zumeist ein ziemlich unergiebiger Job. Nur 24 Punkte hat der Titelverteidiger bisher zugelassen, die mit Abstand wenigsten im Feld. Die Australier dagegen kassierten allein (beim nichtsdestotrotz klaren Erfolg) gegen WM-Neuling Russland deren 22. Solche Nachlässigkeiten sind ab sofort verboten. Fraglich ist, inwieweit Australiens Scrum jenem Südafrikas wird Paroli bieten können.

Halbfinalchance: 49 Prozent

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Gut, das vermeintlich schon so oft ante portas befindliche England mit Spielwitz ist es bis dato wieder nicht geworden. Aber vielleicht müssen auch bloß die Erwartungen ein bisschen adjustiert werden. Les Rostbifs sind eben wie sie sind, und die allgegenwärtige Unterstellung "öde aber arrogant" sicher auch ein bisschen ungerecht. Was ist denn schlecht an guter alter Solidität? Was schlecht an vier Vorrundensiegen? Was schlecht an einer Abwehr, die bisher nur einen gegnerischen Try gestattete? Martin Johnsons England gewinnt - und das ist letztlich, worum es geht. Insbesonders bei Weltmeisterschaften. Martin Johnsons England ist noch kein fertiges Team, funktioniert als Kollektiv aber gut. Charakterlich scheint die Mannschaft aus Stein gemeißelt, zwei Gruppenspiele riss man nach Rückstand mit der notwendigen Entschlossenheit noch an sich. Zugegeben, das alles schmeckt nach Mittelmäßigkeit. Und ob es gegen höhere Hürden als dies Argentinien und Schottland waren ausreichen wird, ist durchaus fraglich. Auch, weil der Ex-Weltmeister durch Verweigerung von Offensivoptionen zu einfach aus der Fassung zu bringen ist. Kein Unglück, dass es nun erst einmal gegen ein Frankreich geht, das sich immer noch auf der Suche nach sich selbst befindet. Eine Schwächung bedeutet ohne Zweifel der Ausfall von Delon Armitage nach einer Sperre. Auf dem Flügel eingesetzt, war er gegen Schottland der mit Abstand gefährlichste Brite. Von großer Wichigkeit wäre ein gut aufgelegter Flankenflitzer Chris Ashton, die bisher deutlich zu hohe Penaltyquote (von bisher mindestens zehn pro Spiel) durch erhöhte Disziplin deutlich zu drücken, kein Fehler.

Halbfinalchance: 70 Prozent

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Franzosen haben nichts zu lachen dieser Tage in Neuseeland, die Equipe steht sozusagen Kopf. Schwachen bis peinlichen Leistungen in der Gruppenphase folgten Debatten und Unruhe rund um die Mannschaft auf dem Fuße. Erinnerungen an die kabarettreife Selbstzerfleischung der Kollegen vom runden Ball anno 2010 wurden auf schmerzliche Weise wach. Und nun auch noch England, der Angstgegner, im Viertelfinale. Manchmal bleibt einem wirklich nichts erspart. Überrollt von den All Blacks, aufgeplattelt von Tonga, mühselige Siege gegen Japan und Kanada - der zweimalige Vizeweltmeister humpelt bisher durch das Turnier. "Wir haben so viele Fehler gemacht, so haben wir keine Chance auf das Halbfinale", weissagte Kapitän Thierry Dusautoir nach dem Tonga-Desaster. Die Mannschaft von Coach Marc Lièvremont, auch bekannt als Mad Professor, ist vollständig verunsichert und grundelt weit unter ihrem Niveau. Die Eskapaden ihres Chefs, der durch exzentrische Aufstellungspolitik auffällt und Spieler schon einmal des Verrats bezichtigt, helfen da vermutlich nicht weiter. "Vielleicht sind sie doch nicht so talentiert wie ich geglaubt habe", merkte Lièvremont zuletzt vor der Presse an. Nach Tonga habe das Team außerdem seine Einladung auf Bier und Plausch rüde ausgeschlagen. Dass Frankreichs Verband ein paar Wochen vor der WM bereits den Nachfolger des seit 2007 amtierenden Trainers bestellte, dürfte auch nicht der Weisheit letzter Schluss gewesen sein. Vor England, gegen das man 2003 und 2007 jeweils im Halbfinale ausschied, spricht nur noch die Legende ihrer  Unberechenbarkeit für les Bleus. Das aber dürfte etwas zu wenig sein.

Halbfinalchance: 30 Prozent

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Irland, wer hätte das gedacht? Vier Niederlagen in ebenso vielen Vorbereitungsspielen im Sommer samt einigen Angeschlagenen, dann ein etwas matter WM-Auftakt gegen die USA. Kaum jemand hätte sein Geld auf die Männer in Grün gesetzt, die nun, nur ein paar Wochen später, die Auferstehung des Turniers hingelegt haben. Alle Partien wurden gewonnen, der heroische erste WM-Erfolg gegen Australien ist bereits in die Annalen eingegangen. Ebenfalls zum ersten Mal konnte Irland in der Folge eine Vorrundengruppe auf Platz eins beenden. Der Einzug in ein Halbfinale wäre ebenfalls eine Premiere, die Chance dazu war vielleicht noch nie so groß wie diesmal. Und wer weiß, mit einem Halbfinale gegen ein biederes England oder die verwirrten Franzosen als verlockend baumelnde Karotte, ist vielleicht noch viel mehr möglich. Trainer Declan Kidneys Formation wird geprägt von ihren Routiniers um Ronan O'Gara und Kapitän Brian O'Driscoll. Sie waren es auch, die in Neuseeland ihre Topform fanden. Man sei trotz schlechter Resultate vor Turnierbeginn nie in Panik verfallen, meinte O'Driscoll. Erfahrung und die Fähigkeit in heiklen Situation die Ruhe zu bewahren, könnte im Duell mit Wales zum entscheidende Vorteil für die Iren werden. Sie haben von den letzten zehn Derbies gegen den keltischen Nachbarn sieben gewonnen, das letzte Aufeinandertreffen im Rahmen der Six Nations allerdings ging an die Waliser. Grün und Rot trennt ansonsten nicht viel, der vielleicht etwas stärker einzuschätzenden irischen Defensive steht ein leichtes walisisches Offensiv-Plus gegenüber. Viele setzen große Erwartungen in das Aufeinandertreffen der derzeit wohl glanzvollsten europäischen Teams, es wäre keine Überraschung, sollte es sich zum sehenswertesten aller Viertelfinali entwickeln.

Halbfinalchance: 50 Prozent

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Die Feierlichkeiten im walisischen Lager nach dem Erreichen des Viertelfinales waren mutmaßlich eine trockene Angelegenheit. Kapitän Sam Warburton nämlich machte eine bemerkenswerte Facette des bisher so ansehnlichen Auftreten der Dragons bekannt: Es wird nicht mehr gesoffen. Nachdem Andy Powell vor 19 Monaten sturzbetrunken einen Golf-Buggy auf der Autobahn chauffiert hatte und in der Folge aus dem Team geflogen war, hätten sich gravierende Veränderungen im Hinblick auf die Kultur der Flüssigkeitszufuhr durchgesetzt. Fokus und körperlicher Zustand der Mannschaft hätten davon zweifellos profitiert, so Warburton im Guardian. "Unbarmherzig", lautete das knappe Fazit von Wales-Coach Warren Gatland nach dem 66:0 gegen Fiji im letzten Gruppenspiel. Und genauso wollte es der Neuseeländer auch haben. Er war in letzten Jahren darum bemüht, seinen Schützlingen die schwachen Momente auszutreiben, welche talentierten walisischen Mannschaften immer wieder teuer zu stehen gekommen waren. Konzentration und die Entschlossenheit, sich darbietende Gelegenheiten beim Schopf zu packen, das sind nun Qualitätsmerkmale der Auswahl. In der grimmig geführten Auseinandersetzung gegen Samoa (17:10), einen Gegner dem man bei Weltmeisterschaften zuletzt zwei Mal unterlegen war, kamen sie den Walisern sehr zupass. Wales geht ohne Verletzungssorgen ins Irland-Spiel. Das garantiert in Kombination mit der erklecklichen Anzahl junger Talente, die sich in den letzten Matches bestens bewährt haben, dass es Gatland an Tiefe im Kader nicht fehlen wird.

Halbfinalchance: 50 Prozent

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Punktemaximum, 36 Tries, 240:49 Punkte. Neuseeland spielte bisher in einer eigenen Liga. Nichts anderes war vom Topfavoriten erwartet worden, der angetreten ist, nach 24 Jahren endlich auf den Thron zurück zu kehren. In der Weltrangliste auf die Nummer eins abonniert, sind die All Blacks auch diesmal wieder besser als alle anderen. Eigentlich. Doch da ist diese psychologische Achillesferse, die die  Künstler von der Südhalbkugel immer wieder aus allen Wolken fallen lässt. Seit einigen Tagen herrscht Unruhe auf den Inseln. Denn der GAU ist eingetreten, die Nation diskutiert die Folgen des Ausfalls von Dan Carter. Der Flyhalf gilt als bester Spieler der Welt, eine Leistenverletzung hat seinem Turnier ein Ende gesetzt. Nun muss der junge Colin Slade in die zentrale Rolle des Spielmachers finden, und das ziemlich schnell. Die Postition des Flyhalf verlangt Allroundfähigkeiten, präzises Passspiel ist ebenso gefragt wie sicheres Kicking, Schnelligkeit und robuste Physis. Seine Entscheidungen bestimmen den Rhythmus einer Mannschaft, er koordiniert und entfaltet den Spielaufbau. "Was die All Blacks machen, das ist größer als ein einzelner Spieler", gab sich Argentiniens Nummer 10 Felipe Contepomi keinen Illusionen hin. "Dan ist der Beste, aber sie haben auch ohne ihn noch ziemlich viel anzubieten." Man wird sehen.

Halbfinalchance: 99 Prozent

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Argentinien hat seinen in den letzten Jahren erarbeiteten Status als stabiles Mitglied der Weltklasse bestätigt. In Gruppe B gelang der anvisierte zweite Platz auf Kosten Schottlands. Obwohl das erste Match gegen England 9:13 verloren ging, dürfte es die Zuversicht der Pumas eher gestärkt haben. Schließlich war man gegen das am stärksten eingeschätze europäische Team lange Zeit am Drücker, erst 13 Minuten vor Schluss gelang den Briten in einem Match an der Grenze zur Brutalität der Umschwung zu ihren Gunsten. Gegen die Schotten stand Argentinien vor dem Aus, bewies aber die Fähigkeit, enge Spiele doch für sich entscheiden zu können. Gonzalez Amorosinos schwebend-eleganter Lauf zum Try sieben Minuten vor Schluss war dafür ausschlaggebend. Die Außenseiter Rumänien und Georgien hatte der WM-Dritte von 2007 mehr oder weniger sicher im Griff, auch wenn die Fehlerquote gegen das kaukasische Team viel zu hoch war. Obwohl Südamerikas Nummer eins wohl nicht mehr die Qualität von vor vier Jahren hat, als Frankreich zweimal geschlagen wurde, gibt sie doch weiterhin einen schwer zu überwindenden Gegner ab. Die Argentinier gehen keinem Tackling aus dem Weg und haben Ecken und Kanten wie eh und je. Das Scrummaging hat man darüber hinaus auch nicht verlernt. Gegen Neuseeland fällt dem routinierten Kapitän Felipe Contepomi eine Schlüsselrolle zu. Da sich im offenen Spiel die Chancen in Grenzen halten werden, muss der 34-Jährige mit seinen Kicks für Punkte sorgen. Trotz allem: Ein Erfolg gegen die All Blacks käme einem Wunder gleich.

Halbfinalchance: 1 Prozent

(Michael Robausch, derStandard.at - 5.10. 2011)