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Der syrische Poet Adonis: nobelpreiswürdig.

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Stockholm - Einst galten die Verfasserinnen oder Verfasser von Gedichten in den Annalen des Literaturnobelpreises als Schmuckstücke (1948: T. S. Eliot!). Nimmt man erst einmal die Zylinderträger mit den Backenbärten weg, die Dampfplauderer von damals, die Funktionäre und eitlen Memoirenschreiber, so waren es seit 1901 häufig genug Vertreter der dichterischen Moderne, mit denen die Schwedische Akademie dem Testament Alfred Nobels Gewicht verlieh. Nobel hatte sich bekanntlich ausbedungen, dass ein Preisträger "das Beste in idealistischer Richtung" zu Papier gebracht haben müsse, um sich die zehn Millionen schwedischer Kronen einverleiben zu dürfen.

Heute sind Lyrikerinnen und Lyriker die Vertreter einer aussterbenden Gattung: nicht der Zahl nach, sondern kraft ihrer Geltung. Immerhin vor der heutigen Bekanntgabe des Literaturnobelpreisträgers wurden bereitwillig Lyriker-Namen kolportiert. Den Gerüchten nach könnte also der syrisch-libanesische Dichter Ali Ahmad Said (Adonis) ebenso für preiswürdig befunden werden wie der Schwede Tomas Tranströmer.

Vertreter einer eisgrauen Jugendkultur werden nicht müde, den Namen Bob Dylan zu nennen. In der Tat: Natürlich müssen Gedichte nicht zwischen Buchdeckeln versteckt werden, um Gehör zu finden.

Die Jüngerinnen, die Jünger der Sappho sind aber schon generell beklagenswerte Geschöpfe: Man entsinnt sich ihrer wie lästiger Plagen. Die gesangliche Wurzel der Sprachen, das Bannen der Welt durch die Magie der Wörter, ist nicht bloß in Verruf geraten. Die ausübenden Dichterinnen und Dichter genießen das Prestige von Hufschmieden oder Ledergerbern.

Prinzipiell hält es jeder für gut, dass gedichtet wird. Tatsächlich wird auch gedichtet, dass sich die Federn biegen. Aber schon ein zerstreuter Blick in die Nobelpreisträgerliste verheißt nicht immer Nachhaltigkeit in der Sache der Poesie.

Als der Tscheche Jaroslav Seifert 1984 für seine modernistische Dichtung "ihrer frischen Sinnlichkeit" wegen geehrt wurde, ging es nicht etwa um ein Duschbad, sondern um einen Hauptvertreter der europäischen Avantgarde. Wie im Fluge übersetzten einige Wiener Dichter, unter ihnen H. C. Artmann und Peter Weibel (!), Seiferts dadaistisch schillerndes Jugendwerk ins Deutsche: Auf den Wellen von TSF (1985) unterstrich bis in den Satzspiegel hinein die Blütenträume einer Jugend um 1930, die aus dem Gelärme der Großstadt ihre Slogans bezog, aus der Flüchtigkeit der Erscheinungen ihr prahlerisches Ethos.

Längst muss man zurückblättern in den Nobelpreislisten, um auf der Suche nach Versdichtern fündig zu werden. Noch in den 1970ern wurden Dichter als Impulsgeber hofiert: Der Nobelpreis für den greisen Italiener Eugenio Montale 1975 war nicht nur eine antifaschistische Großtat, sondern ein Liebesbekenntnis zur lyrischen Feinfühligkeit.

Gelegentlich glaubte man, in den Auszeichnungen, etwa für den Polen Czeslaw Milosz (1980) oder für den St. Petersburger Joseph Brodsky (1987), Ermunterungsbriefe erkennen zu dürfen: Beide wurden, weil sie es vorzogen, dem Druck des Stalinismus in der Fremde zu widerstehen, zu Kosmopoliten. Vor allem aber verquickten beide Dichter in ihren lyrischen Werken die sensuelle Auffassungsgabe mit einem unbedingten Willen zur Traditionsleistung. Die vorkommunistischen Milieus einer genuin "östlichen" Intelligenz fanden nicht nur in Brodskys Römischen Elegien ihren letztgültigen Ausdruck.

Mit der Erosion der Lyrik - verstanden als ein Medium, das für viele verbindlich Bedeutung erzeugt - bemächtigte sich so etwas wie ein lyrischer Pillenknick der Stockholmer Preisliste. Nach Brodsky besann man sich des wunderbaren Derek Walcott (1992): Der karibische Poet passte famos in das überfällige Aufkeimen postkolonialer Diskurse. Der Ire Seamus Heaney (1995) gab noch einmal einen Begriff von der betörenden Widerständigkeit seines auf Verse versessenen Heimatlandes. 1996 folgte die zurückgezogen lebende Krakauerin Wislawa Szymborska: eine Poetin des Alltagslebens, in deren hauchfeinen Sprachgespinsten der Schock des 20. Jahrhunderts nachzittert.

Danach: Stille. Kein Gedicht mehr, nirgends. Ehe die Masse der Literaturinteressierten, wie jedes Jahr, ihr Votum für Philipp Roth abgibt: Der in Paris lebende Adonis hat die Verwerfungen des arabischen Mittelmeeraufruhrs zu einer Zeit vorausgeahnt, als Mubarak noch als Monolith erschien. Und warum nennt eigentlich niemand den großen litauischen Lyriker Tomas Venclova?  (Ronald Pohl/ DER STANDARD, Printausgabe, 6.10.2011)