Bei der griechischen Zinsbelastung "wäre Amerika zu Weihnachten pleite".

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Warum Jean-Claude Trichet viel Positives hinterlässt und was der neue EZB-Chef zu bewerkstelligen hat, erklärt Börsenguru Heiko Thieme.

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Standard: Die Ära von EZB-Chef Jean-Claude Trichet geht zu Ende. Wie beurteilen Sie sein Werk?

Thieme: Absolut positiv. Trichet ist in eine Situation hineingekommen, die für einen Zentralbanker keinesfalls leicht war. Er hat durch seine Geschicke die an ihn gestellten Herausforderungen gemeistert. Und zwar praktikabel und diszipliniert. Die Situation war schwierig und bleibt es auch.

Standard: Die Anleihenkäufe von den Schuldenstaaten gelten als umstritten. War das auch geschickt von Trichet?

Thieme: Ich habe persönlich 2008 einen viel radikaleren Vorschlag gemacht und gesagt, man müsste alle Banken verstaatlichen. Die Banken haben total versagt. Der Privatsektor hat sich selbst ausgehöhlt und damit die freie Marktwirtschaft unterminiert. Warum sollte man nicht Staatsanleihen, die im Markt unter ihrem Nominalwert notieren, aufkaufen?

Standard: Für den scheidenden Chefvolkswirt Jürgen Stark war der Anleihenrückkauf Grund genug, die EZB zu verlassen.

Thieme: Natürlich kann man skeptisch sein. Trichet hat damit die EU-Verträge auch sehr weit interpretiert - aber zum Wohle aller und nicht zum Nachteil von Europa. Trichet hat im besten Wissen und Gewissen für Europa arbeiten wollen. Ob das immer hundert Prozent akkurat war, lasse ich mal im Raum stehen. Er hat versucht, die Inflation zu bekämpfen, das hat funktioniert. Er hat versucht, das Wachstum aufrechtzuerhalten und die Stabilität des Euro zu kreieren, auch das hat er erreicht.

Standard: Was erwarten Sie vom Führungswechsel und dem Italiener Mario Draghi?

Thieme: Betrachtet man sein Herkunftsland, kommen natürlich Bedenken auf. Er kommt aus dem Schuldenstaat Italien. Normalerweise würde ich mir keinen Italiener als Wunschkandidaten vorstellen, der die europäische Zentralbank ohne Disziplin leitet. Genauso wie man sich aktuell kaum einen Griechen in dem Job wünscht. Draghi ist aber eine Ausnahmepersönlichkeit. Ich glaube, dass er sich seiner Verantwortung bewusst ist. Er wird kein Europa à la Italien führen. Er wird ein Europa im Sinne des europäischen Vertrags weiterentwickeln, denn das ist unsere große Chance. Es gilt, dieses Europa weiter aufrechtzuerhalten. Sonst versinken wir alle in der Bedeutungslosigkeit.

Standard: Was geben Sie Mario Draghi mit auf den Weg?

Thieme: Er muss in der Griechenlandfrage innovativ sein. Die Griechen kann man nicht sanieren, indem man dem hochverschuldeten Land mit einer Zinsbelastung entgegentritt, die 20 Prozent beträgt. Würde man diese Zinsbelastung auf Amerika anwenden, dann wäre Amerika zu Weihnachten pleite. Die Griechen haben mit falschen Zahlen gearbeitet, aber das haben alle gewusst. Die Iren haben die gleiche Problematik. Irland hat aber die Banken übernommen, das Volk zahlt dafür. Im Gegensatz zu den Griechen, die nicht zahlen wollen. Das hängt auch mit der Mentalität zusammen. Die Mentalitätsunterschiede können nicht über Nacht abgebaut werden. (Bettina Pfluger, DER STANDARD; Print-Ausgabe, 6.10.2011)