Ubuntu 11.04 war jene Release, die zwar nicht alles - aber doch zumindest vieles rund um die Linux-Distribution ändern sollte: Mit Unity führte man ein neues, erstmals vollständig selbst gestaltetes Interface ein, und verabschiedete sich damit auch nicht zuletzt in einem zentralen Bereich von den Plänen des GNOME-Desktops - den man bis zu diesem Zeitpunkt nur mit kleineren Änderung übernommen hatte. Eine Entscheidung, die auf durchaus gemischte Reaktionen stieß, auch in den Besprechungen von Ubuntu 11.04 setzte es eher ungewohnte Kritik. Vieles fühle sich noch unfertig an, auch die Stabilität sei deutlich unter dem Niveau der Vorgänger, so etwa das Fazit in der WebStandard-Besprechung.

Der Ozelot ist da...

Was blieb, war die Hoffnung auf den Nachfolger, und der ist nun da: Mit Ubuntu 11.10 gibt es eine neue Version der Distribution, als gewohnt launiger Codename fungiert dieses Mal "Oneiric Ocelot". In Folge soll ein näherer Blick auf die zentralen Neuerungen geworfen werden - und dabei natürlich auch der Frage nachgegangen werden, ob man die besprochenen Defizite zwischenzeitlich beseitigen konnte.

Auswahl

Wie gewohnt, gibt es die neue Ausgabe der Distribution wieder in einer Vielzahl von Varianten (Server, Alternate Install, nicht zu vergessen diverse Derivate), für die breite Masse reduziert sich diese Fülle aber wohl auf genau einen Punkt: Die Wahl zwischen der 32- und 64-Bit-Version der Live-CD mit der das System nicht nur installiert, sondern auch gefahrlos vorab ausprobiert werden kann.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Am Anfang jeder neuen Betriebssystemversion steht die Installation - und damit ein Bereich, in dem Ubuntu traditionell glänzen kann. Dies gilt auch für die neue Ausgabe wieder, die Einrichtung eines neuen Systems ist mit wenigen, gut erklärten Handgriffen vorgenommen. 

Neues

Im direkten Vergleich mit dem Vorgänger halten sich die Änderungen in einem engen, ziemlich exakt definierbarem Bereich: Neu ist die Möglichkeit mit der Webcam ein Foto für ein Account-Bildchen aufzunehmen. Ansonsten ist alles auf dem schon vom Vorgänger her bekannten Stand geblieben, dies betrifft auch die Auswahl des Default-Dateisystems. Hier kommt weiterhin ext4 zum Einsatz, den Umstieg auf btrfs hat man also einmal mehr nicht gewagt.

Upgrade

Eine Alternative zur Neuinstallation ist natürlich das Upgrade von einer früheren Version der Distribution. Auch dies lief gewohnt problemlos auf den Testsystemen, hiervon könnte sich so manch andere Distribution noch ein Scheibchen abschneiden. Üblicherweise wird die neue Ausgabe der Software über die "Aktualisierungsverwaltung" angeboten, ist dies nicht der Fall, kann dies über die Kommandozeile per "do-release-upgrade" erzwungen werden.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Die Startzeit von Ubuntu 11.10 liegt in etwa im Bereich des Vorgängers, rein subjektiv eher mit einer Tendenz zur Entschleunigung. Wirklich grobe Unterschiede sind hier zwischen den einzelnen Versionen aber ohnehin schon länger nicht mehr festzustellen, und solange ein Bootvorgang nicht zum sprichwörtlichen "Kaffee kochen" animiert...

Es werde LightDM

Dafür setzt es am Ende dieses Prozesses gleich die erste signifikante Neuerung von "Oneiric": Um den Login-Screen kümmert sich nun LightDM, löst damit die offizielle GNOME-Lösung GDM in dieser Rolle ab. Viel wurde über diese Entscheidung diskutiert, bei Ubuntu führt man nicht zuletzt als Positivum an, dass die Software wesentlich "leichter" und auch an Codezeilen weniger umfangreich sei. So manch Kritiker hält dem entgegen, dass LightDM sich auch wesentlich schlechter mit dem restlichen Desktop integriert und über die Jahre aus sehr guten Gründen zum GDM hinzugefügte Funktionalität einfach ersatzlos streicht.

Spekulatives

Schlussendlich dürften aber wohl auch noch zwei andere Faktoren die Entscheidung zugunsten von LightDM beeinflusst haben: So lässt sich dieser recht flexibel im Aussehen anpassen, was vor allem für angepasste OEM-Versionen - und somit für das Geschäft von Ubuntu-Finanzier Canonical - von Interesse sein dürfte. Zudem hat der GDM mit der aktuellen Version einen entscheidenden in Richtung GNOME Shell gemacht - auf die man bei Ubuntu ja zugunsten von Unity verzichtet.

Aufgabe. Erfüllt.

Letztendlich bleibt freilich die Erkenntnis: LightDM erledigt die von ihm zugewiesen Aufgabe problemlos - und darum geht es ja im Kern. Das Ubuntu-Theme ist ebenfalls durchaus ansprechend geworden, einziger grober optischer Ausreißer ist der Dialog zum Herunterfahren des Rechners, der als GTK+-Fenster ohne jegliches Theme daherkommt - und entsprechend ziemlich deplatziert wirkt. Positiv erwähnt werden sollte, dass man nach früher Kritik noch diverse Funktionen zur Barrierefreiheit inkludiert hat, darunter eine Bildschirmtastatur.

Screenshot: Andreas Proschofsky

War Ubuntu 11.04 noch so etwas wie eine Übergangs-Release in Sachen Desktop, so lässt die neue Release an der Unity-Ausrichtung keinerlei Zweifel mehr aufkommen: Der zuvor genutzte, klassische GNOME 2.x wurde vollständig entfernt,  mit ihm hat sich auch der Eintrag "Ubuntu Classic", der bislang beim Login zur Auswahl stand, verabschiedet.

Flach

Statt dessen wird als zweite Wahl nun "Unity2D" dargeboten: Dieses ist für all jene Rechner gedacht, die ohne die für Unity benötigte 3D-Grafikbeschleunigung auskommen müssen. In der Kernfunktionalität ist es praktisch deckungsgleich mit dem "echten" Unity, lediglich bei der Optik muss man den einen oder anderen Abstrich hinnehmen, ansonsten verrichtet das Ganze tadellos seine Aufgaben - eine wirklich gut gelungene Wahlmöglichkeit für ältere Systeme.

Umsetzung

Die technische Implementation von Unity2D ist ebenfalls durchaus von Interesse: Setzt man hier doch auf Qt/QML und damit auf jenes grafische Toolkit / C++-Framework, das sonst eigentlich beim KDE-Desktop zum Einsatz kommt. Dies hat auch zur Folge, dass Ubuntu 11.10 mit nicht weniger als drei Toolkit-Bibliotheken ausgeliefert wird: GTK+2, GTK+3 und Qt, was wohl auch eine gewisse Herausforderung an die Schaffung des nötigen Platzes auf der Live-CD dargestellt hat.

Anmerkung

Zudem will diese neue Vielfalt nicht so recht zu den Aussagen von Canonical-CTO Jason Warner passen, der noch vor einigen Monaten in einem Interview beklagt hatte, dass es am Linux-Desktop zu viele unterschiedliche technische Lösungen gäbe, den aktuellen Zustand gar als "schizophrenen Desktop" titulierte. Während die Dualität von GTK+2/GTK+3 gleichermaßen vorübergehend wie unvermeidlich ist, lässt sich die Aufnahme von Qt jetzt nicht gerade als ein Schritt in die Richtung größerer Konsistenz deuten. Dies insbesondere, da Qt fortan auch offiziell unterstützt wird, und damit nicht ein bloßes Implementationsdetail für Unity2D darstellt.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Ansonsten hat man sich bei Unity mit der aktuellen Release definitiv dem richtigen Thema gewidmet: Dem Feinschliff, der sich in zahlreichen kleineren, aber durchwegs sinnvollen Veränderungen bemerkbar macht. So ist der "Ubuntu"-Knopf zum Aufruf des Dash jetzt in den Launcher / das Panel am linken Bildschirmrand gewandert, dies als Reaktion auf das Feedback der NutzerInnen, wie man bei Canonical betont.

Anpassungen

Die bisher ebenfalls von Haus aus im Launcher befindlichen Einträge für Apps und Files hat man hingegen wieder entfernt, da sie eine unnötige Dopplung zu der im Dash dargebotenen Funktionalität darstellten. Die verfügbaren "Lenses" für zielgerichtete Aufgaben können jetzt unten im Dash über kleine Icons erreicht werden, und gehören noch immer zu jenen Funktionen von Unity mit dem größten Potential. Neu hinzugekommen ist dabei eine "Music Lense", über die im Angebot des Musik-Players Banshee gestöbert werden kann, samt der Möglichkeit die Ergebnisse nach Jahr oder Genre zu filtern

Optik

Allgemein hat man gehörig an der optischen Repräsentation des Dash gefeilt, so passt sich dessen Semitransparenz jetzt automatisch an den Bildschirmhintergrund und dessen Helligkeitswerte an. Zudem bedient man sich eines Blur-Effekts um den Dash klarer von dahinter liegenden Fenstern abzuheben. Auch die Darstellung der Filter wurde erheblich verbessert, zuvor war dies ja als wenig attraktive Drop-Down-Box ausgeführt.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Eine der Möglichkeiten rasch zwischen den gerade laufenden Programmen zu wechseln, ist die bekannte Tastenkombination Alt+Tab. Den damit aufgerufenen Dialog hat man für Ubuntu 11.10 vollständig neu gestaltet - und im Konzept weitgehend an die selbe Funktionalität der GNOME Shell angepasst.

Wechselhaft

So wird nun auch hier nicht mehr zwischen Fenstern sondern zwischen Anwendungen gewechselt, über den Druck auf die Pfeiltaste nach unten werden alle offenen Fenster des gerade angewählten Programms in einer Miniaturansicht dargestellt. Zudem gibt es per Alt+^ (Taste über Tab) die Möglichkeit durch alle offenen Fenster einer gerade aktiven Anwendung zu rotieren.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Einen weiteren zentralen Bestandteil der User Experience von Ubuntu machen die diversen Indicator-Applets aus, die am rechten Rand des Top-Panels zu finden sind. Auch hier gibt es so manche Neuerung zu berichten. So wurde das "MeMenu" in Pension geschickt, dessen Einträge für den Chat-Status sind zwischenzeitlich in den Messaging Indicator gewandert.

Menüs

Dafür gibt es ein "DeviceMenu" über das neben dem Ausschalten des Rechners oder dem Account-Wechsel auch diverse zentrale Tätigkeiten des Desktop-Alltags rasch aufgerufen werden können. Dazu gehören etwa Einträge zum Start der Systemeinstellungen oder auch der Aktualisierungsverwaltung. Dass hier auch ein Menüpunkt zum Management der beim Login gestarteten Programme zu finden ist, scheint allerdings etwas übertrieben, nicht zuletzt da der damit aufgerufene Dialog nicht unbedingt durch seine Zugänglichkeit glänzt.

Toolkit

Einen Teil der aktuellen Arbeiten an den Indicator Applets stellte übrigens deren Portierung auf GTK+3 dar, und damit auf die aktuelle Generation des grafischen Toolkits. Dies gilt ebenso für andere von Canonical entwickelte Tools, auch wenn diese Arbeiten derzeit noch nicht abgeschlossen sind. Überhaupt zieht sich derzeit eine Mischung aus GTK+2 und GTK+3-Anwendungen durch den Ubuntu-Desktop, dank identischen Themes werden dies allerdings nur die wenigsten NutzerInnen tatsächlich bemerken.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Eines der parallel zu "Unity" eingeführten Konzepte ist jenes des "globalen Menüs", bei dem die Menüeinträge in das Top-Panel wandern, um vertikalen Platz bei der Anwendung an sich zu sparen. In Ubuntu 11.10 setzt man dies konsequent fort, was nicht zuletzt bedeutet, dass mehr Programme diesen Modus korrekt unterstützen, leider schaffen das aber selbst in der Default-Auswahl weiterhin nicht alle. So wird etwa bei LibreOffice - das in der aktuellen Version 3.4.3 enthalten ist - die Menüzeile beim Programm selbst dargestellt.

Knöpfe

Ein Spezialfall ist die Darstellung von "maximierten" Anwendungen, die beinahe den gesamten Bildschirm ausfüllen. In diesem Modus wandern nämlich auch die diversen Fensterknöpfe in das Top-Panel. Neu bei Ubuntu 11.10 ist nun, dass diese Buttons von Haus aus versteckt sind, und erst beim Bewegen des Mauszeigers in das Panel dargestellt werden - wie schon bisher das globale Menü. Auch diese Änderung wurde durchaus kontrovers diskutiert, manche NutzerInnen zeigten sich davon überzeugt, dass so das Beenden eines Programms weiter erschwert wird. In der Realität werden sich aber wohl die meisten relativ schnell umgewöhnen - so sie denn überhaupt maximierte Fenster verwenden.

Firefox

Der abgebildete Firefox ist übrigens in der Version 7.0.1 enthalten, und damit ebenfalls in der neuesten aktuell als stabil gekennzeichneten Version von Mozilla. Neben der Versionsnummerninflation seit Ubuntu 11.04 dürfen sich die UserInnen vor allem auf eine weiter gesteigerte Geschwindigkeit und einen zum Teil signifikant reduzierten Speicherverbrauch freuen.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Einer weiteren grafischen Auffrischung hat man das Software Center von Ubuntu unterzogen, und das Ergebnis kann sich wirklich sehen lassen. Vor allem in Hinblick auf die Übersichtlichkeit überzeugt das neue Design im Vergleich zu früheren Varianten.

Abgleich

Zusätzlich ist aber auch ein durchaus interessantes neues Feature hinzugekommen, und zwar die Möglichkeit per OneConf die Softwareinstallation zwischen mehreren Rechnern abzugleichen. Vom neuen Software Center ist man mittlerweile dermaßen überzeugt, dass man einen über die Jahre immer wieder vorgeschlagenen Schritt nun tatsächlich gewagt hat: Die Entfernung des altbekannten Paket-Installations-Tools Synaptic aus dem Default-Install. Power-UserInnen werden das aber wohl recht schnell wieder nachinstallieren - so sie nicht ohnehin die Kommandozeile bevorzugen - kann doch das Software Center weiterhin nicht all die Funktionsvielfalt von Synaptic abdecken.

Plattform

Schon seit mehreren Releases gibt es im Software Center eine eigene Rubrik für kommerzielle Anwendungen, das dort befindliche Angebot hält sich aber auch mit der aktuellen Ausgabe der Distribution weiter in einem sehr "überschaubaren" Rahmen. Zumindest versucht Canonical mittlerweile Ubuntu verstärkt als App-Plattform zu pushen, bleibt abzuwarten, wie erfolgreich man mit diesem ambitionierten Vorhaben ist. Immerhin hat man mit Quickly schon mal ein Tool zur Hand, das bei der Erstellung von einfachen Programmen zur Hand gesehen soll, auch wenn etwas verblüfft, dass dieses auf PyGTK setzt - und damit auf eine Entwicklung die de fakto am Auflaufen ist (und beim Upstream-GNOME schon durch PyGObject ersetzt wurde)

Screenshot: Andreas Proschofsky

In Fragen Softwareausstattung sticht bei Ubuntu 11.10 vor allem eine zentrale Änderung hervor: Statt dem seit den Anfängen der Distribution immer ausgelieferten Evolution setzt man nun von Haus aus auf Mozillas Thunderbird. 

Pro und Kontra

Eine Entscheidung, die insofern nachvollziehbar ist, da sich der Thunderbird ohnehin schon großer Beliebtheit bei Linux-Desktop-NutzerInnen erfreut, zudem derzeit aktiver entwickelt wird als Evolution. Und doch hat sie auch einige weniger erfreuliche Konsequenzen, ist Thunderbird doch wesentlich schlechter in den restlichen Desktop integriert als Evolution - und lässt einiges von dessen Funktionalität vermissen. So gibt es im Default-Install keinen Kalender, zwar kann man Lightning leicht nachinstallieren, mit der Desktop-Uhr - wie Evolution - integriert sich dieser allerdings nicht.

Themes

Unübersehbar sind bei "Oneiric Ocelot" übrigens die weiter voranschreitenden Optimierungen am Desktop-Theme und den Icons - auch wenn so manches noch nicht Desktop-weit durchgesetzt wurde. So sind bei manchen Programmen im Toolbar symbolische Icons zu sehen, bei anderen noch die gewohnt farbenfrohen Piktogramme.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Ein echter Gewinn ist die Aufnahme von Deja-Dup in den Default-Install. Bekommt die Distribution doch auf diese Weise ein denkbar einfach zu benutzendes Backup-Tool. Dieses kann die Daten sowohl lokal als auch online sichern, und bietet die Möglichkeit automatisch in einem regelmäßigen Abstand Backups zu erstellen. Nützlich ist auch die Integration mit dem Dateimanager Nautilus, über die alte Dateien gezielt wieder hergestellt werden können.

Vermischtes

Verschwunden ist hingegen der Video-Editor PiTiVi, dessen fixe Aufnahme aber ohnehin schon einst für einige verwunderte Reaktionen gesorgt hat, deckt er doch jetzt nicht notwendigerweise Kern-Desktop-Funktionalität ab. Und über das weitere Paketangebot von Ubuntu kann die Anwendung ohnehin leicht nachinstalliert werden.

Gwibber

Einer größeren Umarbeitung hat man den Microblogging-Client Gwibber unterzogen, so wurde vor allem das Interface weiter vereinfacht, auch die Performance hat deutliche Fortschritte gemacht. Am Rande erwähnt sei, dass unter all der Desktop-Pracht ein Linux Kernel 3.0 arbeitet.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Viel wurde in den letzten Monaten über Ubuntus Abschied von GNOME und der Hinwendung zur Eigenentwicklung Unity geschrieben, trotzdem an dieser Stelle noch mal eine kurze Präzisierung, da in Kommentaren immer wieder mal ein gewisses Missverständnis in dieser Causa durchblizzt: Ubuntu hat sich keineswegs vom gesamten GNOME verabschiedet, ganz im Gegenteil basiert auch die aktuelle Version wieder zu weiten Teilen auf dem gewohnten Desktop.

Vergleiche

Unity ist "lediglich" als Ersatz für die zentralen User-Experience-Bestandteile gedacht, in GNOME 2.x-Zeiten waren das Panel und Startmenü, jetzt betrifft dies die GNOME Shell. Die meisten anderen Komponenten (von Anwendungen wie dem File Manager bis zu Bibliotheken) übernimmt Ubuntu auch weiterhin mehr oder weniger direkt.

Update

Und in dieser Hinsicht hat man sich für Ubuntu 11.10 einen nicht zu unterschätzenden Brocken Arbeit auferlegt - die Umstellung der GNOME-Basis auf die Generation 3, konkret gleich auf das aktuelle GNOME 3.2. Bei der Vorgängerversion hatte man ja noch ein letztes Mal auf GNOME 2.x gesetzt, wohl auch um nicht zu viele große Änderungen auf einmal anzugehen - immerhin hatte man da schon die Umstellung auf Unity zu bewältigen.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Die Aktualisierung auf GNOME3 bringt denn auch gleich eine Fülle von Änderungen für Ubuntu 11.10 mit sich, die Palette reicht von einem deutlich schlankeren Interface beim File-Manager Nautilus bis zu einem neuen Schriftenauswahldialog im Toolkit GTK+. Am sichtbarsten aber wohl die Zusammenführung aller Einstellungen in einem neu gestalteten Kontrollzentrum.

Einstellungen

Ubuntu übernimmt das bestehende "Control Center" mit kleinen Modifikationen, so hat man etwa die Einstellungen für den Bildschirmhintergrund auf "Darstellung" umbenannt und einen Punkt zur Wahl des Themes dazugepappt. Dazu kommen dann noch einige Ubuntu-spezifische Tools, deren Integration sich allerdings in engen Grenzen hält. Werden die GNOME-Tools immer im Hauptfenster dargestellt, öffnen all die Ubuntu-Punkte ein neues Fenster. Statt einer echten Verschmelzung gibt es hier vorerst also nur ein Icon als Link.

Fehlendes als Fehler

Ansonsten fällt bei dem von Ubuntu dargebotenen GNOME vor allem auf, was so alles fehlt: All die neuen Anwendungen aus dem aktuellen GNOME 3.2 sucht man hier vergeblich: Also kein Kontaktmanagement per GNOME Contacts, kein GNOME Documents, selbst den netten Previewer "Sushi", der einen raschen Blick auf Dateien aller Art im Nautilus bietet, sucht man hier vergeblich.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Freilich gilt immer, dass eine Distribution in keinerlei Hinsicht an irgendwelchen Programmvorgaben von Upstream-Projekten wie GNOME gebunden ist. Und dass GNOME Documents aufgrund der Zeitgeist-Integration in Unity für Ubuntu nur begrenzten Sinn hier macht, ist durchaus nachvollziehbar. Problematisch werden diese Modifikationen aber, wenn sie zu gröberen Löchern in der User-Experience-Story führen, und diese sind bei Ubuntu 11.10 unübersehbar.

Beispielhaft

Ein besonders anschauliches Beispiel sind die "Online-Accounts", wie man sie von GNOME 3.2 übernimmt: Hiermit soll eigentlich ein zentraler Punkt zur Authentifizierung mit Web-Services im Desktop geschaffen werden, derzeit funktioniert dies zumindest schon mal mit Google-Accounts. Doch von all diesen Möglichkeiten bleibt bei Ubuntu kaum etwa übrig. Denn auch wenn die Einstellungen schön brav "E-Mail", "Kalender", "Kontakte", "Unterhaltung" (=Chat) und "Dokumente" auflisten, in der Realität ist das einzige Programm in der Default-Ausstattung, das davon profitiert, der Instant Messenger Empathy.

Anpassungen

Um die automatische Übernahme der Accounts für Mail und Kalender bringt man sich durch den Wechsel auf Thunderbird, den Kontakten fehlen schlicht die "GNOME Contacts" (oder ebenfalls der bisherige Mail-Client Evolution), den Dokumenten GNOME Documents. Für die NutzerInnen ist der entsprechend Einstellungsdialog also wohl im besten Fall verwirrend. Hier entsteht dann etwas der Eindruck, dass man bei Canonical nicht so recht weiß, wie man die zunehmend divergierenden Ansätze von GNOME und Ubuntu zusammenbringen kann, um ein rundes Ganzes zu erzeugen.

Screenshot: Andreas Proschofsky

er Umstieg auf die GNOME3-Basis hat aber auch so durchaus interessante Konsequenzen, und zwar für jene die - zumindest probeweise - mal an den Upstream-Früchten von GNOME naschen wollen. Ist die nachträgliche Einrichtung der GNOME Shell doch mittlerweile mit ein paar Handgriffen erledigt, es reicht das entsprechende Paket im Software Center herauszusuchen - bei Ubuntu 11.04 war dies noch mit größeren Komplikationen verbunden.

Auswahl

Einmal installiert, steht die Shell-Oberfläche in Folge unter dem Eintrag "GNOME" im Login-Manager zur Auswahl. Die konkrete Umsetzung der GNOME Shell ist zwar durchaus "bemüht", mit Fedora kann man sich aber allein schon wegen des Fehlens diverser zentraler Komponenten in dieser Hinsicht nicht messen. Zudem empfiehlt sich die GNOME-Schriftart "Cantarell" nachträglich zu installieren, die Ubuntu-Schrift wirkt im Panel etwas gar dick aufgetragen. Wer auf das GNOME-Theme Adwaita wechselt, bekommt dann sogar das Nebeneinander von hellen und dunklen Themes präsentiert - wie es vom GNOME je nach Zweck einer Anwendung vorgesehen ist.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Als kleiner Bonus sei erwähnt, dass sich Ubuntu aufgrund der konkreten Softwareausstattung gut dazu eignet, die eine oder andere GNOME-Shell-Erweiterung zu installieren. Auf die Möglichkeiten von Zeitgeist zurückgreifend gibt es dann unter anderem eine Journal-Ansicht im Activities-Overlay, Jumplist-Support für einige Anwendungen und nach Häufigkeit der Nutzung gereihte Programme in der Suche.

Fallback

Ein Nebeneffekt der GNOME-Shell-Installation ist die Einrichtung des Pakets gnome-session-fallback (das natürlich auch separat installiert werden kann). Mit diesem steht am Login-Screen auch der Fallback-Modus von GNOME 3.2 zur Verfügung - der für jene, die sich so gar nicht von GNOME 2.x verabschieden können, eine Alternative darstellen könnte. Die volle Funktionalität von GNOME2 bekommt man damit zwar nicht, aber zumindest der prinzipielle Aufbau mit Panel und Startmenü ist der gewohnte.

Screenshot: Andreas Proschofsky

Ein Fazit für Ubuntu 11.10 zu finden, ist keine gänzlich triviale Aufgabe. Einerseits ist unübersehbar, dass die Linux-Distribution in vielerlei Hinsicht deutliche Fortschritte zum Vorgänger gemacht hat. Vor allem das eigene Interface Unity erweist sich als deutlich konsistenter - und auch stabiler. Der Wechsel auf GNOME3 ist ebenfalls durchwegs zu begrüßen, allerdings wie so viele Änderungen in Oneiric Ocelot mit zahlreichen Inkonsistenzen verbunden. Dazu kommt, dass man auch die Stabilitätsprobleme noch nicht so ganz im Griff zu haben scheint, im Test kam es immer wieder mal zu Abstürzen zentraler Desktop-Komponenten.

Zwischendrin

So kann man sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass Ubuntu 11.10 eine weitere Übergangsversion auf dem Weg zur nächsten Long-Term-Support-(LTS)-Ausgabe ist - also Ubuntu 12.04. Für diese stehen die Vorzeichen eigentlich recht gut, die großen Brüche hat man jetzt alle hinter sich gebracht, kann also die kommenden Monate vor allem auf das Füllen der Löcher in der eigene Desktop-"Story" verwenden - und auch an der Stabilität arbeiten.

Zukunftsfragen

Langfristig wirft der aktuelle Zustand von Ubuntu aber auch grundlegende Fragen auf, die zunehmende Abwendung von GNOME hat der Qualität der Software bislang alles andere als gut getan. Dies ist an sich auch kein Wunder, hatte man bisher weite Teile praktisch fix-fertig serviert bekommen, muss man nun aufgrund der konzeptionellen Unterschiede immer mehr Anpassungen vornehmen - und das gelingt bislang nur begrenzt. Jetzt ist es an Canonical mit "Precise Pangolin" zu belegen, dass man die Fähigkeiten - und die Ressourcen - hat, auch im Alleingang ein wirklich rundes Desktop-Paket abzuliefern - bis jetzt ist man dort jedenfalls noch nicht angekommen. (, derStandard.at, 13.10.11)

Screenshot: Andreas Proschofsky