Dem Initiator der Reforminitiative "MeinOE" Wolfgang Radlegger verdanken wir die Bestätigung jenes Verdachts, der im Gemüt des Staatsbürgers seit geraumer Zeit so viel Verdüsterung erzeugt. Auf die Frage, warum er nicht früher, womöglich gar als Politiker, reformatorisch aktiv geworden sei, verteidigte er sich gestern im Standard mit der Aussage: "Man hat in der aktiven Politik eine Binnensicht, das muss ich all jenen zugestehen, die heute politische Verantwortung tragen" - und damit auch sich selbst und den gestern Verantwortlichen. Uns interessiert hier nicht, was ihn in den mehr als zwanzig Jahren nach seinem Wechsel aus der Politik in die Vorstandsetage von Wüstenrot gehindert hat, aus der Binnensicht des aktiven Politikers in die Erleuchtung des politischen Sehers überzutreten, sondern das von ihm angesprochene Phänomen an sich, das noch als "Radlegger-Symptom" in die Politikwissenschaft eingehen könnte.

Keine Frage, seine Diagnose stimmt. Viele Erscheinungen der Politik lassen sich damit besser erklären als durch andere Diagnosen, vor allem, wenn man den Euphemismus "Binnensicht" als Betriebsblindheit im elfenbeinernen Hamsterrad an die Realität annähert. Es handelt sich dabei um eine in der aktiven Politik grassierende Berufskrankheit, die frühzeitig nie, rechtzeitig selten erkannt wird, und wenn, dann nicht in eine Invaliditätspension, sondern eher noch - zeitgemäß - in eine Abschiebung nach Brüssel mündet. So erhellend die Erkenntnis ist, die Politik leide an Morbus Binnensicht, so schwierig ist der Erreger ausfindig zu machen. Denn man sollte doch annehmen, jahrelanger Einblick in das Räderwerk der Politik öffne den davon Verschlungenen die Augen weiter als es gewöhnlichen Staatsbürgern mit ihrer naiven Außensicht beschieden ist. Sie wären bei ihrem Zugang zu Information und Herrschaftswissen einfach schlauer, ja wenigstens so hellsichtig, wie sie sich nach außen zu geben pflegen.

Und das umso mehr, als sie sich unter dem Vorwand, sich das Gesichtsfeld von Binnensicht nicht bis zur Blindheit verengen lassen zu wollen, vom Steuerzahler um nicht weniger als elf Millionen Parteiakademien finanzieren lassen, auf dass hellsichtiger Nachwuchs herangezogen werde. Führend darin die FPÖ. Doch kaum rückt er in die aktive Politik nach, infiziert er sich mit Binnensicht, und wehe, einer oder eine erweist sich als resistent. Die genießen bald wieder eine Außensicht auf die aktive Politik. Für die Politik gibt es noch 16 Millionen Parteienförderung, was zur Ausrottung der Binnensicht auch nicht viel beigetragen hat.

Jetzt, wo sie endemisch zu werden droht, treten einst von ihr Befallene ans Krankenbett der Politik. Das ist gut, sie wissen, wie leicht man sich infiziert. Du kannst dich für Millionen von Jagdfreunden beraten lassen - die Binnensicht sagt dir: tu's! Du kannst dich für Millionen vom Boulevard feiern lassen - die Binnensicht schwört, der Boulevard wird dich retten. Russen wollen Österreicher werden - die Binnensicht sagt dir, was es kosten darf. Vor allem aber wiegt die Binnensicht den Befallenen in die Sicherheit, dass nie ein Blick von außen auf sie fallen werde. - Jetzt braucht's nur noch ein Rezept. (DER STANDARD, Printausgabe, 7.10.2011)