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Ein Polizist prügelt Tatiana Bolari.

Foto: Reuters/Behrakis

Man muss sich einmal vorstellen, was los wäre, wenn ein Polizist in Istanbul bei einer Demonstration eine Fotografin der Nachrichtenagentur AFP zu Boden schlägt. Die Liga der Anti-Türkei-Redner hätte wieder frei Haus einen Beweis für den uneuropäischen, autoritär-islamistischen Charakter des Landes. Und im Fortschrittsbericht der EU-Kommission zum Stand des Beitrittsprozesses - nächster Erscheinungstermin Mittwoch, 12. Oktober - würde es ein dickes Bummerl geben. Zu recht selbstverständlich.

In Athen aber ist das zwar nicht eben ein Kavaliersdelikt, doch nach mehreren Jahren ritueller Demonstrationen auf dem Syntagma-Platz gegen Staat und Regierung völlig normal. Der Polizist, der die langjährige (und den Einsatzbeamten sehr wohl bekannte) Fotoreporterin Tatiana Bolari niederschlug, wurde am Donnerstag dem Richter vorgeführt und bis zum Beginn des Verfahrens wieder auf freien Fuß gesetzt. Bolari, eine frei arbeitende Reporterin, die Anfang der 90er-Jahre ihre eigene Agentur Eurokinissi gründete und auch für AFP tätig ist, hatte den Polizisten nach der Protestkundgebung am Mittwochnachmittag angezeigt. Es gab genügend Video- und Fotomaterial, um den Beamten zu identifizieren - vor allem das Bild des Reuters-Fotografen Yannis Behrakis, das am Donnerstag auf die Titelseiten einiger Athener Zeitungen kam und Bolari zeigte, wie sie nach dem Faustschlag des 26-Jährigen das Gleichgewicht verliert.

Dem finalen Schlag ging ein Wortwechsel voraus. Bolari sagte später, sie habe den Polizisten, der sie bereits beim Fotografieren hinderte und schlug, aufgefordert, wenigstens den Helm abzunehmen, damit sie sehen könnte, wer sie prügelte. Der habe sie zuerst mit obszönen Worten beleidigt, dann zugeschlagen. Der Gewaltausbruch erscheint vollkommen unmotiviert, und die Lernkurve der griechischen Polizei beim Management der Syntagma-Proteste liegt auch nach so vielen ähnlichen Krawallen stabil bei Null.

Das bestärkt die hiesigen Reporter in der Ansicht, dass die Gewalt gegen Fotografen System hat. Die Polizei wolle sie einschüchtern, damit sehr viel weniger Bilder von prügelnden Beamten an die Öffentlichkeit gelangen, heißt es. Bolaris Schläger-Polizist ist dabei nicht der erste Beamte der Sondertruppe für Einsätze bei Straßendemonstrationen, der angezeigt wurde. Ein kürzlich erschienener Bericht von Reporter ohne Grenzen führte unter anderem das Beispiel des invalide gewordenen Fotografen Manolis Kypraios auf. Auch er führt Klage gegen die Polizei.

Dass Griechenlands Finanz- und Wirtschaftskrise nebenbei auch noch eine Krise des Rechtsstaats mit sich gebracht hat, wird geflissentlich übersehen. Nicht wenige politische Beobachter in Athen würden die Reihenfolge auch umkehren: die Zerrüttung des Rechtsstaats hat den Boden für die Finanzkrise bereitet.

In Athen hat die Staatsgewalt ihre Kontrolle über den Einsatz von Gewalt gegen die Bürger auf der Straße gelockert. In Istanbul ist es die Gewaltbereitschaft der Bürger untereinander, die bisweilen schockierende Ausmaße annimmt: Montagabend auf dem Weg zum Flughafen bedrängen sich zwei Fahrer auf dem letzten Stück der Schnellstraße zum Atatürk-Airport, rechts ein Taxi, links ein Privatwagen. Das Taxi rammt schließlich den anderen Wagen leicht, beide halten sofort, mitten auf der Überholspur.

Der Bus, in dem ich sitze, legt eine Vollbremsung hin, die Autotüren springen auf, Taxifahrer und Autofahrer, zwei beleibte Männer um die 50, stürmen aufeinander zu. Der Autofahrer hat schon beim Aussteigen eine Pistole gezogen, eine große silbern glänzende Waffe, die er auf den Kopf des Taxifahrers richtet. Man brüllt, schubst sich, der Busfahrer schreit aus dem Fenster, und immer noch ist diese Pistole da, den Taxifahrer kümmert sie nicht. Ein dritter Mann ist aufgetaucht, vielleicht der Fahrgast, er versucht den Mann mit der Waffe zu beruhigen, streicht dessen Wangen mit den Händen und wird immer wieder zurückgestoßen. Dann gibt der Busfahrer Gas, der Stau ist zu lang geworden, und das Feierabenddrama in dieser Millionenstadt bleibt hinter uns.