Euge Ruge

Foto: Tobias Böhm

Mit dem weithin unvermerkten Verrinnen der Zeit hat die DDR viel von ihrem Schrecken verloren. Wohl wird in eigens bezeichneten Gedenkjahren der Unrechtsgehalt des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates nach wie vor herausgestrichen. Rechte Empörung will im Rahmen solcher verordneten Pflichtübungen keine aufkommen: Zu klein geraten erscheinen im Nachhinein die Anmaßungen graustichiger Greise, die in schlechtsitzenden Anzügen auf ein wimpelschwingendes Volk einredeten.

Doch damit hat es keineswegs sein Bewenden: Die spürbare Entkrampfung im Umgang mit dem kontaminierten Erbe der DDR hat unversehens - und weithin unbemerkt - eine Ostalgie zweiten Grades entstehen lassen. Erst wollten sich die nachgeborenen Zonen-Kinder den unschuldigen Genuss der Spreewaldgurke nicht vermiesen lassen. Die Enttäuschung über den Verlust der Jugendweihe ließ in den 1990ern einen bizarren Kult um die lässlichsten Gebrauchsartikel der Mangelwirtschaft entstehen. Kino-Komödien feierten heillos verspätet, jedoch augenzwinkernd "subversiv" das Nachwachsen einer pfiffigen Zonen-Jugend, die dem realsozialistischen Regime mit seinen enorm "uncoolen" Sittenwächtern erfolgreich den Nerv zog.

Inzwischen aber hat die Abwicklung des historischen Schadensfalles DDR auch auf die gehobene Belletristik übergegriffen. Seit Uwe Tellkamp in seinem Roman Der Turm das Vorhandensein einer durchaus gesitteten Schicht von Kulturträgern in Dresden nachgewiesen hat, herrscht an bürgerlichen DDR-Romanen kein Mangel mehr. Titel wie In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge sind Zeugnisse des Bedeutungsausgleichs.

Zum einen bestand die "Zone" nicht nur aus beschränkten Apparatschiks, die sich ihr graues Alltagsleben mit ein bisschen Rotkäppchen-Sekt schönsoffen. Zum anderen eignet sich der gut abgehangene Generationenroman bestens zur nachholenden Bewältigung einer unliebsamen Erfahrung: Seit den Buddenbrooks hat es sich einigermaßen herumgesprochen, dass man Familienstammbäume an den absteigenden Ästen erkennt.

Ruge (57), dessen wunderbar geschickt gebautes Buch es auf die Shortlist des diesjährigen deutschen Buchpreises geschafft hat, erzählt in perspektivischen Wechseln vom allmählichen Verdämmern einer in der Wolle gefärbten deutschen Kommunistenfamilie. Großvater und Großmutter ließen sich vom unergründlichen Ratschluss der sowjetischen Komintern-Zentrale einst nach Mexiko schicken. Von ihren antifaschistischen Heldenleben zeugen später, nach der Übersiedlung in eine Bonzen-Siedlung im nahen Umland von Berlin, nur Trödelstücke: "die große, gewundene, rosafarbene Muschel, in die Wilhelm" - der alte Kämpfer - "eine Glühbirne eingebaut hatte".

Ruge, dessen Vater Wolfgang ein hochbedeutender DDR-Historiker mit dissidentischen Anwandlungen war, verwendet sein ganzes schreiberisches Geschick darauf, den Muff, die Piefigkeit, das abgestandene Bewusstsein einer marxistisch-leninistischen Upperclass zu protokollieren, der es an beinahe nichts mangelte - außer eben an Einsicht.

Bei Umnitzers - so der Familienname - ging es auch nicht anders zu als bei Hempels unterm Sofa. Der alte Patriarch wird wunderlich. Die russische Schwiegertochter, traumatisiert vom "großen vaterländischen Krieg", trinkt sich bei der alljährlichen Zubereitung der Weihnachtsgans jedes Mal einen unmäßigen Schwips an. Der Enkel setzt sich bereits vor dem Mauerfall in den Westen ab. Papa Kurt, dem das Gemüt eines Klemmers zu schaffen macht, vergnügt sich als beamtete Leuchte des historischen Materialismus mit Doktorandinnen. Von gestandenen Genossinnen lässt er es sich "mündlich besorgen". Man riecht und schmeckt und ertastet alles: die improvisierte Gemütlichkeit, die Einübung in die Trostlosigkeit, die Düsternis eines von Ersatzstoffen angetriebenen Lebens.

Die demütige Rekapitulation des ostdeutschen Alltags erhellt wenig. Vergessen scheinen die Versuche untröstlicher Autoren, der DDR die Stirn zu bieten: die Litaneien Wolfgang Hilbigs, die Registraturen Gert Neumanns. Eugen Ruges begütigender, irgendwie auch herzerwärmender Roman ist der beflissene Nachtrag zur Mentalitätsgeschichte eines ruhmlos untergegangenen Staates. Die Durchschnittlichkeit seines Sujets ist leider Gottes sein ästhetisches Schicksal. (Ronald Pohl, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 8./9. Oktober 2011)