Irgendwas passiert da gerade an der Wall Street, aber wohin es treibt, kann niemand sagen. Was vor knapp vier Wochen mit ein paar Schlafsäcken und Zeltbahnen begann, ist zu einer landesweiten Bewegung angewachsen, mit Ablegern von Boston bis Los Angeles, von Chicago bis Washington. Belächelt werden sie schon lange nicht mehr, die Demonstranten, die unter der Losung "Occupy Wall Street" im Zuccotti-Park in New York kampieren.

Wohlgemerkt, niemand hat im Ernst versucht, die Börse zu besetzen. Niemand hat Steine in die Bürofenster von Goldman Sachs oder Morgan Stanley geworfen. Nirgends werden, wie im Sommer in London, Geschäfte geplündert. Das zugige Rechteck inmitten der Straßenschluchten Manhattans ist viel zu klein, als dass sich dort Hunderttausende wie auf dem Kairoer Tahrir-Platz versammeln könnten. Und mit geradezu rührender Vorsicht sind die Protestierenden darauf bedacht, die strengen Auflagen der Polizei zu erfüllen - keine Zelte, keine Toilettenhäuschen, kein Schaden für die Blumenrabatten. Dies ist ein Camp intelligenter Debatten, kein Hauptquartier von Straßenkämpfern. Und daher umso wirkungsvoller.

Die Rebellen treffen einen Nerv, weil sie eine soziale Schieflage beim Namen nennen. Was sie auf den Punkt bringen, ist ein weitverbreitetes Gefühl, dass ein paar Schlüsselspieler des amerikanischen Kapitalismus seit Jahren gegen die Regeln des Fairplay verstoßen. Der Frust reicht weit, bis in die Reihen der Mittelklasse, seine Adressaten sind vor allem die Banker.

Kaum hatte der Steuerzahler sie vor dem Ruin gerettet, machten sie weiter, als wäre nichts geschehen. Während die Geldjongleure längst wieder üppige Boni verdienen, hat der Rest des Landes noch immer an den Folgen der Finanzkrise zu knabbern. Die Realeinkommen der Normalverbraucher sinken, die reichsten Amerikaner dagegen sichern sich ein so großes Stück vom Kuchen wie noch nie seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre.

Kein Wunder, dass die Zweifel an der Lebensphilosophie des Landes wachsen. Der "American Dream", jene Verheißung, dass jeder, der sich anstrengt, irgendwann die Früchte harter Arbeit erntet, ist für viele zerplatzt. Zum Beispiel für den Studenten, der sich fast zweihunderttausend Dollar Schulden aufhalsen musste, um die College-Gebühren berappen zu können, und nun bloß Gelegenheitsjobs findet. Gute, bezahlbare Universitäten waren einst die Garanten des uramerikanischen Prinzips von den gleichen Chancen für alle - die großen Durchlauferhitzer einer sozial durchlässigen Gesellschaft.

Es war die gleiche Wut auf die Exzesse der Wall Street, die einst die Tea Party entstehen ließ. Nur ging sie bei der rechten Graswurzelbewegung einher mit einer noch größeren Wut auf den Staat, der angeblich Milliarden verschleudert und die große amerikanische Freiheit bedroht. Die Graswurzelbewegung der Linken zieht aus der Misere genau den entgegengesetzten Schluss. Sie verlangt einen aktiveren Staat, der die Reichen stärker besteuert und wieder aktiver eingreift ins Wirtschaftsgeschehen.

Doch die Parallelen sind nicht zu übersehen. So wie die Tea-Party-Aktivisten ihren republikanischen Parteifreunden einheizten, setzen die linken Rebellen den Präsidenten unter Druck. Barack Obama, 2008 der bejubelte Hoffnungsträger, tanzt aus ihrer Sicht zu artig nach der Pfeife der Wall Street. (Frank Herrmann, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10.10.2011)