In der Europäischen Union glauben immer weniger Menschen an die Gestaltungsmacht der Politik im Allgemeinen und an die Führungskompetenz der Spitzenpolitiker im Besonderen. Es sind nicht nur die Boulevardzeitungen mit ihren fetten Schlagzeilen, die den Lesern Angst einjagen. Der Chef der britischen Notenbank, Merwyn King, sagte kürzlich in einem TV-Interview, es handle sich "unzweifelhaft um die größte Finanzkrise, die die Welt jemals erlebt hat".

Auch der Londoner Economist spricht von "überall lauernden Gefahren ... unter dem Vulkan", während der Leitartikler der Neuen Zürcher Zeitung besorgt ist, dass ohne eine "intelligente Schocktherapie ganz Europa zu einem Sanierungsfall zu werden droht".

Nicht nur diese zwei angesehenen Blätter, sondern auch die bedeutendsten Ökonomen, Publizisten und Ex-Politiker, wie zum Beispiel der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, plädieren für den "politischen Willen", endlich vernünftig zu handeln und mit einer glaubwürdigen Sanierungsstrategie und tiefen Einschnitten im Staatssektor das Vertrauen der ausländischen Anleger und der eigenen Bürger zurückzugewinnen.

Angesichts der zaudernden, miteinander streitenden und zugleich auf die jeweils nächsten Wahltermine schielenden EU-Spitzenpolitiker erinnert man sich an Bismarcks Bemerkung (vor fast 150 Jahren!) über die verlogene Sprachregelung: "Ich habe das Wort Europa immer im Munde derjenigen Politiker gefunden, die von anderen Mächten etwas verlangen, was sie im eigenen Namen nicht zu fordern wagten." Das gilt auch heute für die Heuchler auf allen Seiten - von den über fremde Ausbeutung schreienden griechischen Populisten bis zu den deutschen und französischen Spießbürgern und den vom nationalen Egoismus strotzenden Jung- und Altpolitikern der Slowakei und Polens.

Vor dem Hintergrund der wachsenden Angst, dass auch ausländische Großbanken in den Schuldenstrudel der als kreditunwürdig geltenden Euroländer hineingerissen werden, muss man die Brisanz der Warnung des großen deutschen Historikers Heinrich August Winkler im Gespräch mit Jacques Schuster in der Literarischen Welt (8. 10.) begreifen: "In Europa droht die Gefahr einer nostalgischen Verklärung jener Ära, in der die sogenannten Nationalstaaten über ihre eigenen Währungen verfügten. Jeder Versuch, diesen Zustand wiederherzustellen, würde uns in eine wirtschaftliche und politische Katastrophe führen ... Wir brauchen mehr Europa und nicht weniger. Jeder Rückfall in die nationalstaatliche Vergangenheit wäre fatal."

Jeder Europäer, der den Zweiten Weltkrieg und die Jahre des Marshall-Planes erlebt hat, kann diesen mahnenden Worten nur aus ganzem Herzen zustimmen. Nicht nur in Griechenland, sondern auch im Karpatenbecken und am Balkan geht das Gespenst des rückwärtsgewandten Nationalismus um. Es ist höchste Zeit, mit der "Vorwärtsverteidigung des europäischen Projektes" (Winkler) zu beginnen. Das griechische Sozialprodukt macht zwar bloß 2,5 Prozent des Sozialproduktes der EU aus, aber der politische Preis eines Bankrotts wäre zu hoch und die Folgen einer Kettenreaktion unabsehbar. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 11.10.2011)